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Christoph Rütimann: Linie No.2

Christoph Rütimann, "Linie No.2", Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzlingen, 1988
Christoph Rütimann, "Linie No.2", Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzlingen, 1988
Christoph Rütimann, "Linie No.2", Ausstellungsansicht Kunstraum Kreuzlingen, 1988
Christoph Rütimann, "Linie No.2", Ausstellungsansicht Kunstmuseum Thurgau, 2020

Herstellungsjahr: 1988

Technik: Chinatusche auf Papier

Christoph Rütimann zielt mit seinem Schaffen auf eine grundlegende Untersuchung der Möglichkeiten der heutigen Kunst. Er zeichnet, malt, fotografiert, filmt und tritt als Performer auf, immer mit dem Anliegen, die Instrumente der Kunst innovativ einzusetzen und sie auf ihre fundamentalen Ausdrucksmöglichkeiten hin zu untersuchen.
Ab 1987 entstand die Werkserie "Grosse Linien", in der sich der Künstler substanziell mit dem Phänomen der Linie beschäftigt. Die längste Arbeit dieser Serie misst genau 46,69 Meter, was der Künstler als eine Hommage an die Feigenbaum-Konstante der Chaosforschung versteht.
2014 erwarb das Kunstmuseum Thurgau aus dieser Serie die Arbeit "Linie No.2". Es ist eine der ersten und noch kürzeren Arbeiten der Werkgruppe. Entstanden ist die Arbeit 1988 zusammen mit der "Linie No.3" für die Ausstellung "Was den Bildern / das den Linien / fällt / hinein" im Kunstraum Kreuzlingen mit Werken von Rütimann und Markus Döbeli.
In den "Grossen Linien" thematisiert Christoph Rütimann die Funktion der Linie in der Kunst. Die Linie, der Strich gilt in der modernen Kunst als das Ausdrucksmittel mit der grössten Unmittelbarkeit. Ein Strich auf einem Papier wird oft als ein Ausdruck reiner Emotion verstanden. Christoph Rütimann setzt dieser Vorstellung eine radikal analytische Auffassung der Linie gegenüber. Er zeichnet einen langen geraden Strich auf mehrere auf dem Boden ausgelegte Papierbögen oder er malt auf eine Papierbahn von der Rolle und zerschneidet diese in einzelne Stücke. Die Linie wird wie ein wissenschaftliches Exponat zergliedert und der Begutachtung zugeführt. Selbst bei Anwendung grösster Sorgfalt weisen die Linien wegen der unterschiedlichen Sättigung des Zeichengeräts, der unvermeidbaren Variation des Drucks beim Auftrag und aufgrund der einen oder anderen feinen Unebenheit im Papier feine Unregelmässigkeiten auf. Die Wahl des Papiers und die Materialisierung mit Chinatusche verleiht jeder einzelnen Linie ihre eigene Identität. Sie beginnen ein Eigenleben zu entwickeln, das dem Zufall – dem "kleinen Bruder" von Chaos – geschuldet ist. Was auf den ersten Blick ein einfacher gerader Strich zu sein scheint, zeigt sich bei genauerem Hinsehen als lebendige Linie, als eine Spur mit vielen Ausdrucksfeinheiten.
Die Blätter werden unterschiedlich breit gerahmt und im Ausstellungsraum wieder zu einer Linie vereint. Diese Inszenierung thematisiert modellhaft die Linie, den geraden Strich als primäres Ausdrucksmittel der Zeichnung, ja, der Kunst überhaupt. Die Linie wird vom Mittel zum Bildmotiv, zum eigentlichen Thema der künstlerischen Aussage des Werks. Gertrude Steins berühmter Äusserung "A rose is a rose is a rose" folgend, sagt Christoph Rütimann mit dieser Setzung zuerst einmal: "Eine Linie ist eine Linie. Nicht mehr und nicht weniger." Die Linie ist nicht Inhalt, Zeichen oder Symbol, sondern nur Fakt, Farbe auf der Fläche.
Inszeniert im Ausstellungsraum werden die zusammengesetzten Bildfragmente dann aber doch schnell zu mehr als nur zu einer neutralen Präsenz einer Linie als Linie. Unübersehbar definiert sie einen Raumhorizont, teilt sie die Wandflächen in ein Unten und ein Oben, setzt sie für die Wahrnehmung des Raums eine unübersehbare Orientierungsmarke. Unterstrichen wird die Horizontwirkung von Rütimanns Linie noch dadurch, dass Fenster und Raumecken ihren Lauf unterbrechen und sie doch immer als Ganzes wahrgenommen wird. Bei ihrer ersten Präsentation 1988 im Kunstraum Kreuzlingen liess Rütimann die Linie gar vom Vorraum "durch die Wand" hindurch in den Hauptraum laufen, wo sie gleichsam drei Fenster einklammerte. Die Linie erweist sich in solchen Konstellationen als eine penetrante, raumbestimmende Konstante, um die herum sich die menschliche Wahrnehmung fast zwangsläufig organisiert.
Durch solches Einpassen in den Raum unterläuft die "Linie No.2" eine weitere Konvention der Kunst. Bis weit ins 20.Jahrhundert hinein dominierte die Vorstellung des Kunstwerks als gerahmtes Bild an der Wand (oder der Skulptur auf dem Sockel). Das Kunstwerk war wie ein Fenster Teil einer Wandgestaltung und passte sich deren Grösse an. Rütimanns Inszenierung der Linie bricht mit dieser traditionellen Vorstellung der Beziehung von Wand und Bild. Sie geht mit dem Raum eine offene Beziehung ein, indem sie Architekturelemente überspringen kann und auch in die Raumecken hineinläuft. Damit sprengen Rütimanns Linien nicht nur die Konvention der Zeichnung als gerahmtes Bild. Auch das Verhältnis von Kunstwerk und Raum wird neu definiert.
Seit einigen Jahren verbindet Rütimann in Museumsausstellungen die "Grossen Linien" mit Werken aus den jeweiligen Kunstsammlungen, wodurch die Unterschiede der Bildkonzeptionen noch direkter ins Auge springen. In der Ausstellung "Konstellation 11 ─ Dietrich & Co." im Kunstmuseum Thurgau kombinierte er die "Linie No.2" mit ausgewählten Gemälden von Adolf Dietrich. Der durch die Linie definierte Raumhorizont lenkte dabei die Aufmerksamkeit des Publikums plötzlich auf die konstruktiven Eigenheiten von Dietrichs Bilder, etwa darauf, wie der Berlinger Maler seine Bildhorizonte anlegte oder wie sich Hintergründe zum Bildrand verhalten. Zudem liess das unmittelbare Nebeneinander der reinen Linie Rütimanns und der scheinhaften Wirklichkeitsspiegelung Dietrichs ganz grundsätzlich über die Möglichkeiten der Bilder nachdenken.
(Text: Markus Landert, 2020)

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