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Jon Etter: Irritierte Orte

20. Mai 2005 – 30. Oktober 2005

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Jon Etter: ZUlassungsstellen
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Jon Etter: Imbiss Tempelhof
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Jon Etter: Parking Friedrichshafen
Berlin bietet alles, was von einer pulsierenden Weltstadt erwartet wird: Berühmte Leute, Aufsehen erregende Bauten, Bewegung, Emotionen, Glamour und Elend – spektakuläre Motive, wohin das Auge blickt. Für Jon Etter sind diese Reize nur von nebensächlicher Bedeutung. Er ist nicht als Reporter, nicht als Dokumentationsfotograf nach Berlin gereist. Er suchte nicht den Reiz des Neuen oder Fremden, sondern führte in Berlin eine langfristig angelegte, visuelle Recherche über Raumdarstellungen weiter.
Das Alltagsdenken versteht Raum meist als ein durch Mauern umbauter Bereich. Oft aber genügen bereits einige wenige Markierungen, um einen Raum zu definieren und ihm bestimmte Nutzungen zuzuschreiben. Überall wo Menschen zusammenleben, definieren sie solche funktionale Zonen, die oft komplex ineinander greifen. Konkret entstehen Räume durch Bauten ebenso wie durch Zeichen wie Zäunen, Markierungen oder andere Grenzziehungen. Architektur ist dabei ebenso Zeichensystem wie funktionale Struktur. Auch sonst gehen Zeichenhaftigkeit und Funktionalität Hand in Hand. Eine Strasse ist nicht nur Fahrbahn, sondern auch komplexe Zeichenstruktur; ein Stadthaus nicht nur Verwaltungsgebäude sondern auch zeichenhafter Ausdruck der Identität eines Ortes.
Jon Etters fotografieren Räume zeichnen sich aus durch den Eindruck von Leere, oder besser Entleertheit, denn echte Leerstellen sind in der Stadt des 21. Jahrhunderts selten geworden. Alle Räume sind verteilt. Jeder Fleck ist in Besitz genommen. Was es allenfalls noch gibt, sind verlassene Räume, Stadtbrachen, Räume ohne eindeutig definierte Nutzung. Jon Etter zeigt in manchen Fotografien solche Zonen. Der Eindruck von Leere und Verlassenheit entsteht in diesen Fotografien, weil es keine Zeichen mehr gibt für jene Aktivitäten, die wir aufgrund der Raumnutzung eigentlich an diesem Ort erwarten würden. Die Hinweise auf die Nutzung des Raumes und die Anzeichen dafür, dass diese Nutzung nicht mehr realisiert wird, heben sich gegenseitig auf. Beim unbespielten Fussballplatz, beim eingezäunten Geviert mit vernachlässigtem Rasenbewuchs oder beim Rummelplatz ohne Kinder fehlt so die Eindeutigkeit der Raumdefinition. Die sichtbaren Zeichen sind widersprüchlich, wodurch die Verbindlichkeit der Räume aufgehoben wird. Der materielle Zerfall ist dabei weniger wichtig als der Verlust einer eindeutigen Funktion. Die Räume sind nicht zerstört, sondern sinnentleert. Leere erweist sich als Aufhebung von Bedeutung.
In den Nachtaufnahmen von Jon Etter scheint Raum noch fragiler auf. Auch die hier gezeigten Räume sind menschenleer. Allerdings nicht aufgegeben oder unbelebt, sondern nur gerade für einen Moment ohne Menschen. Raum wird hier durch das Licht erzeugt und erweist sich als temporärer Bereich der Aufmerksamkeit, der den, der ihn betritt, sichtbar macht und ihm Bedeutung verleiht. Dieser potentielle Schauplatz löst sich mit dem Löschen der Scheinwerfer radikal wieder im Nichts auf. Die Räume der Nachtaufnahmen manifestieren sich nur noch als flüchtige Erscheinung, gleichsam wie für das Auge des Fotografen erzeugt und wie nur von diesem gesehen.
Das Interesse von Jon Etter gilt also offensichtlich dem Vergänglichen, Provisorischen und dem Vagen. Gezeigt werden Häuser vor dem Bau, aufgegebene Infrastrukturen oder ungesicherte Schauplätze. Zu sehen sind immer Situationen im Wandel, Zonen im Zustand der Veränderung, fragile Lichträume, deren Auslöschung spätestens durch das Licht des Tages erfolgt. Die Fotografien von Jon Etter zeigen widersprechende oder zumindest ambivalente Zeichensätze, die auf je unterschiedliche Nutzungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweisen. Die Gleichzeitigkeit der Verweise auf das, was vielleicht mal war oder das, was vielleicht mal sein wird, regt nicht nur die Fantasie von Betrachterinnen und Betrachtern an, sondern sie verleiht den Fotografien von Jon Etter auch eine schillernde Mehrdeutigkeit. Die vermeintliche Festigkeit unserer Alltagserfahrung von Raum erfährt dadurch eine nachhaltige Erschütterung. Gerade jenes Strukturelement der Wirklichkeit, das als Architektur, als fest gefügte, räumliche Setzung das Leben in vermeintlich unverrückbare Bahnen lenkt, erweist sich in den Fotografien von Jon Etter als fragiles und ambivalentes Erfahrungsfeld. Wer da genau hinschaut, dem entflieht plötzlich die Festigkeit von Raum und Wirklichkeit vor Augen.

Die Publikation zur Ausstellung ist im Shop erhältlich.

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