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Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900

19. Juni 2005 – 18. September 2005

Marie-Lieb
Marie Lieb: Gestalteter Zellenfussboden, 1894
blankenhorn
Else Blankenhorn: Selbstporträt (?)

Eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Prinzhorn-Sammlung Heidelberg

Um 1900 bevölkerten Scharen von Frauen die psychiatrischen Anstalten Europas. Ihre bildnerischen Produktionen sind jedoch im Vergleich zu den Wahn- und Allmachtsvorstellungen ihrer männlichen Leidensgenossen kaum bekannt. Die Ausstellung „Irre ist weiblich“ gibt mit über zweihundert Objekten, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts entstanden sind, erstmals einen breiteren Einblick in die kreativen Ausdrucksformen von Frauen in der Psychiatrie dieser Zeit. Die Ausstellung thematisiert die Rollenbilder jener Zeit und fragt nach den Urgründen der bildnerischen Tätigkeit.

Die Lebensverhältnisse in psychiatrischen Kliniken um 1900 sind heute kaum mehr vorstellbar. Wohl war Heilung und Pflege der Patienten das vornehmliche Ziel der seit Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt entstandenen öffentlichen Anstalten. Die Behandlung beschränkte sich aber noch weitgehend auf Arbeitstherapie, die ebenso der Heilung wie ökonomischen Zwecken diente. Und zur Ruhigstellung von Patienten gab es ein ganzes Arsenal von Zwangsmassnahmen: Dauerbäder, die Stunden oder gar Tage dauern konnten, gehörten zum Anstaltsalltag ebenso wie die Ruhigstellung der Patienten in Zwangsjacken oder in Isolierzellen. Moderne Therapiemethoden wie die Psychoanalyse kamen meist nur bei den vermögenden Privatpatienten zur Anwendung, wie überhaupt die gesellschaftliche Stellung der Patienten einen wesentlichen Einfluss hatte auf den Umgang mit ihnen.

In diesen widrigen Lebensumständen, ohne Selbstbestimmungsrechte und oft bedrängt von Ängsten und Wahnvorstellungen erfanden Frauen in den Anstalten eigene Formen der Kommunikation und des gestalterischen Ausdrucks. Oft konnten sie dabei auf keine anderen Ressourcen zurückgreifen als auf ihre unmittelbare Umgebung und auf den eigenen Körper. Mit Phantasie, Zähigkeit und Witz, mit ästhetischer Intuition und praktischem Geschick formulierten sie in Zeichnungen, Malereien, Stickereien oder schriftlichen Zeugnissen ihre Geschichten und Sehnsüchte. Vielfach vergewisserten sich dabei die Eingesperrten über bildnerische Erinnerungsaktivitäten der verlorenen Lebensgeschichten oder der häuslichen Sphären ohne Mangel. Die Wahnwelten thematisierten zudem oft weibliche Lebensmodelle, etwa das verpasste oder gescheiterte Pflichtprogramm von Liebe, Heirat und Familie.

Während heute in der Psychiatrie das Arbeiten mit Bildern zu den anerkannten Therapieformen gehört, zeigten in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts Anstaltsärzte nur in Ausnahmefällen Interesse für das kreative Schaffen von Patienten. Der systematische Aufbau einer Sammlung von Werken von Patienten an der Heidelberger Klinik durch den Assistenzarzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn war so eine echte Pioniertat. Er sammelte Beispiele bildnerischer Arbeiten aus Kliniken verschiedener Länder und publizierte 1922 das Buch „Bildnerei der Geisteskranken“, das in Fachkreisen kontroverse Diskussionen auslöste und bei Künstlern wie Paul Klee oder den Surrealisten Begeisterung auslöste.

Prinzhorn suchte, ausgehend von einer expressionistischen Vorstellung des authentischen Künstlers, vor allem nach Beispielen eruptiver Produktionsprozesse oder nach metaphysisch gerichteten Wahnerzählungen. In diesem Schöpfermodell gab es für Frauen kaum Platz und so sind nur gerade rund zwanzig Prozent der Werke der Prinzhorn-Sammlung von Frauen geschaffen.

Die Ausstellung „Irre ist weiblich“ stellt nun genau diese, während Jahrzehnten wenig beachteten Werke in den Vordergrund. In einem aufwändigen Forschungsprojekt wurden den vorhandenen Werken Lebensgeschichten zugeordnet und die kreativen Ausdrucksformen thematisch gruppiert. Die Arbeiten von über fünfzig Patientinnen sind zusammengestellt unter den Schlagworten „Stricken, Sticken, Kleben“, „Farbe bewegen“, „Räume abstecken“, „Handfeste Dinge“, „Frauen ohne Spiegel“ und „Himmel und Erde“. Aus der individuellen Umnutzung von traditionellen Handarbeitstechniken oder einem expressiven Malgestus entstehen überraschend innovative Bildwelten. Die Werke geben Einblicke in das Erleben und Wahrnehmen von Einweisungen und langjährigen Hospitalisierungen, in das Erschaffen von Lebens- und Liebesgeschichten, in das Erinnern und Aufrufen religiöser, idyllischer oder alltäglicher Räume und Gegenstände – oft in komplexen Verrückungen und Brechungen.