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Max Bottini: Eingemachtes

5. November 2000 – 25. Februar 2001

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Max Bottini: Ausstellungsansicht des Kunstmuseums des Kantons Thurgau
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Max Bottini: Ausstellungsansicht des Kunstmuseums des Kantons Thurgau

Degustieren erlaubt

Der Raum ist kühl, das Licht gedämpft. Vor uns steht ein riesiger Tisch mit verschiedenen Gerätschaften: einige Ordner, Messer, Gabeln, Teller, Gläser, Wasserkaraffen, ein Serviertablett. An den Wänden entlang zieht sich ein hohes Gestell mit den über tausend Einmachgläsern, die den Kern von Max Bottinis Projekt "Eingemachtes" bilden. An der Stirnwand des Raumes leuchten in grüner Schrift Begriffe auf, die Geschmackserfahrungen beschreiben. Menschen im Raum begutachten die farbenprächtige Mustersammlung und am grossen Tisch sind sie eingeladen, vom Inhalt der bereitstehenden Einmachgläser zu kosten. Während der Dauer der Ausstellung realisiert sich das Kunstwerk, indem Besucherinnen und Besucher des Museums die ausgestellten Einmachgläser öffnen, ihren Inhalt kosten, vergleichen, in den Rezeptordnern nachschlagen und geniessen. Mit jedem Wahrnehmungsakt dieser Art, jeder Degustation verschwindet ein Teil der Installation. In der Nutzung durch das Publikum löst sich das Kunstwerk auf.
Die prozesshafte Selbstauflösung der Installation im Laufe ihrer Präsentation ist ebenso Bestandteil des Konzeptes von Max Bottini wie die Interaktivität ihres Aufbaus: Max Bottini hat die über tausend Einmachgläser nicht selbst eingekocht. Das Material für die Installation, insgesamt über 1120 Einmachgläser mit zugehörigen Rezepten, wurde dem Künstler von über vierhundert Köchinnen und Köchen zur Verfügung gestellt, die er über einen Aufruf in Zeitungen, Fernsehen und übers Internet für eine Teilnahme am Projekt gewinnen konnte. Auf diese Weise ist eine Vielzahl unterschiedlichster Rezepte zusammengekommen: Nach alten Familienrezepten Eingemachtes steht neben selbsterfundenen kulinarischen Kreationen. Betty Bossis Einmachtipps wurden ebenso umgesetzt wie die Geheimrezepte von Kochfreaks und Feinschmeckern. Entstanden ist so eine einzigartige Rezept- und Mustersammlung, in der sich der reiche Erfahrungsschatz von Hunderten von Personen spiegelt.
Mit der traditionellen Vorstellung eines Kunstwerks haben die Projekte von Max Bottini nicht mehr viel gemein. Das Kunstwerk präsentiert sich nicht mehr länger als das sorgfältig gerahmte, abgeschlossene Stilleben eines einzelnen Genies. Sowohl die Produktion wie die Auseinandersetzung mit den Projekten erweist sich als interaktiver Prozess, in dem Künstler und Publikum in je unterschiedlicher Funktion aktiv werden. Die Auseinandersetzung mit dem ästhetischen beschränkt sich dabei nicht länger auf das Sichtbare. Das Museum wandelt sich vom Ort des Schauens zum Erfahrungsraum. Das Kunstwerk wird vom Objekt passiven Schauens zum Spielfeld eines aktiven, selbstbestimmten Agierens: zum Ort aktiven Erkennens. Das Publikum ist dabei gleichermassen Produzent und Konsument des Kunstwerkes. Der Künstler selbst ist lediglich Moderator eines Prozesses, in dessen Verlauf Geschmackswerte zur Diskussion gestellt und neu definiert werden können.
Wer die Installationen von Max Bottini als Kunstwerk (an)erkennt, der erfährt das Degustieren als modellhaften ästhetischen Wahrnehmungsprozess. Die unüberschaubare Menge der über tausend Gläser erzwingt als ersten Wahrnehmungsschritt eine Auswahl. Je nach Interesse (für bestimmte Rezepte) und Vorlieben (für einzelne Farben oder Formen) konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den einen oder anderen Bereich der Installation. Das Interesse konzentriert sich auf einzelne Gläser, verschiebt sich vom Ganzen aufs Detail. Der Fokus wird enger. An dieser Stelle bricht die Auseinandersetzung ab oder aber sie geht über in ein noch aktiveres Agieren: das öffnen eines Glases und das Kosten seines Inhaltes. Wer nicht eingreift ins Glas, dem bleiben die Informationen verschlossen. Nur wer aktiv testet, öffnet sich das gesamte Potential möglicher Erfahrungen. Mit dem Aufnehmen der Geschmacksinformationen ist der Erkenntnisprozess aber noch nicht abgeschlossen. Erst wer vergleicht, abwägt und wertet, beginnt zu verstehen. Sehen und Erkennen ästhetische Erfahrungen im weitesten Sinne erweisen sich als komplexe Prozesse, die auf jeder Stufe aktives Engagement verlangen.
Die Installation von Max Bottini steht in einer langen Tradition künstlerischer Auseinandersetzung mit Nahrungsmitteln. Vom barocken Stilleben bis zum Darmstädter Block von Josef Beuys, von den Gemüsemenschen eines Archimboldo bis zu den Partys von Rirkrit Tiravanija wurde das Essen, seine Inszenierung und die damit verbundenen Wertungen mit den Mitteln der Kunst immer wieder thematisiert. Nahrungsmittel und ihre Zubereitung faszinieren Max Bottini selbst schon seit längerem. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit als Maler thematisierte er in verschiedenen Aktionen Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. 1994 liess er rund 60 Hühner in artgerechter Aufzucht aufziehen, um diese in einer Freiluftaktion nach einem chinesischen Rezept zuzubereiten. 1998 startete er ein Projekt mit Stockfischen. Er erstellte eine Sammlung mit Rezepten aus aller Welt und liess bei einem "Degustations-Essen" in einer installativen Inszenierung sein Publikum an seinen Recherchen teilnehmen.
Mit seinen Projekten führt Max Bottini sein Publikum zwanglos zu Überlegungen grundsätzlicher Art zum Thema Ess- und Konsumverhalten. Er reagiert auf den scheinbar nicht zu stoppenden Wandel der Nahrungsmittelzubereitung hin zu standardisierten und industrialisierten Fertigprodukten. Seine Rezept- und Mustersammlungen zielen ab auf die Sichtbarmachung eines riesigen Reservoirs von Zubereitungsmethoden und Geschmacksvariationen. Sie richten das Augenmerk auf Altbekanntes, revitalisieren - ohne das Bild einer längst vergangenen, "besseren" Zeit heraufzubeschwören - fast vergessenes Wissen und stellen der Effizienz aktueller Methoden der Zubereitung und des Genusses eine scheinbar unzeitgemässe Alternative gegenüber, die ein anderes Zeitgefühl und eine andere Geschmacksempfindung fordert. In diesem Sinne sind seine Installationen gleichermassen Forschungs- und Sensibilisierungsinstrumente.

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