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Jochen Gerz: Miami Islet

8. Oktober 1998 – 20. April 1999

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Jochen Gerz an der Pressekonferenz für woher wohin Foto: Falk von Traubenberg, © Kunstmuseum
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Die Andershaftigkeit des Ich

Im grossen Kellergewölbe des ehemaligen Klosters wird regelmässig aktuelle Kunst gezeigt. Diesmal ist der Besucher aufgefordert, den Ausstellungsraum, der im Dunkeln liegt, allein zu betreten. In einem kleinen eigens gebauten Kabinett, wo man Kataloge zu den Arbeiten von Jochen Gerz einsehen kann, hat der Künstler mit weissen Lettern auf grauer Wand den Hinweis aufsetzen lassen: Von hier zum Ende des Raums zu gehen und eine Flasche an die Wand zu werfen. Wer gerade keine leere Flasche mitgebracht hat, kann sich hier bedienen.
Ich habe selbst eine dabei. Und während ich hinaustrete, in den schwarzen Raum, den man zu Ende gehen soll, schliessen sich hinter mir zwei graue Jutevorhänge. Zunächst habe ich noch ein schwaches Licht im Rücken und auch das versichernde Etikett mit dem Titel der Arbeit, "Miami Islet" und dem Autorvermerk, Jochen Gerz. Dann aber beginnt der Ausstellungskeller im Museum der Kartause Ittingen sehr lang, sehr leer und sehr finster zu werden. Ich gehe den Weg allein. In der Hand nur die Flasche. Die eigenen Schritte hallen unter dem alten Gewölbe. Nach dreissig Metern bin ich umhüllt von Nacht, in eine Art Privatraum getaucht, der nur mir gehört und wo mich keiner sieht. Aber schon nach kurzer Zeit verwandelt sich dieser Schutzraum in das unsichere Terrain der eigenen Ängste. Die Flasche in meiner Hand wird zu einer Art Vergewisserung. Meine Schritte werden zögerlich, hallen immer lauter, so scheint es mir, in meiner tappenden Blindheit. Noch immer ist keine Wand in Sicht. Die Dunkelheit vor mir öffnet eine unbekannte Gegend. Wer sagt mir, dass von dort keine Gefahr lauert? Und wenn es nur die eigenen Phantome wären, die mir dort entgegenkommen? Ich gehe weiter, als müsste ich mit jedem Schritt gegen die Angst vor dem Unbekannten ankämpfen. Ich drehe mich um, versuche, etwas zu erspähen von dem Kabinett hinter mir, das mich eben noch versichert hatte. Umkehren? Das wäre feige. Ausserdem, wollte ich doch der Aufforderung des Künstlers folgen, wollte die Erfahrung nicht verpassen, Kunst heisst doch auch erleben, oder etwa nicht? Also weitergehen.
Meine Hand umklammert die Flasche. Die Augen fangen an, sich an die Schwärze und an die Blindheit zu gewöhnen. Ich fange an zu schlurfen, denn gewiss ist nur der Bodenkontakt. Ich spitze die Ohren, als müsste ich den Raum akustisch ausloten können. Plötzlich schieben meine Füsse etwas vor sich her, es knirscht laut in der Stille. Glasscherben. Immer mehr. Ich bleibe stehen. Noch immer sehe ich nichts. Aber meine Füsse stossen an Spuren, hier müssen andere schon vor mir gewesen sein. Ich atme auf, als wäre ich endlich auf gesichertem Terrain, hier haben vor mir andere schon ihre Flasche geworfen. Ich meine auch, vor mir eine Wand zu spüren, ohne aber auch nur ahnen zu können, wie weit sie entfernt ist. Angestrengt starre ich ins Dunkel. Ich sehe nichts. Aber in der Schwarze vor mir tauchen sie wieder auf, hocken da im Unbekannten, als hätten sie Gestalt angenommen, jene Angstphantome, die mich den ganzen Weg schon beklemmen. Und wenn ich mich ihrer entledigen könnte? Wenn ich endlich etwas tun könnte? Ich packe die Flasche fester. Es ist still. Ich hole aus, erleichtert im Schwung der Herkulesgeste. Da klirrt es. In der Stille ist nichts als das Klirren. Ich sehe nichts. Ich höre nur. Höre die Scherben splittern an der Wand, deutlich ist das Auftreffen des dickeren Flaschenbodens vom Leib und Hals der Flasche zu unterscheiden. Dann ist es wieder still. Getroffen. Da war die Wand. Das Dunkel bleibt. Aber das laute, raumfüllende Klirren hat Gewissheit gegeben: tatsächlich, nichts als eine Wand. Ich bleibe ratlos stehen. Das Klirren klingt mir im Ohr nach. War das alles? Ich könnte befreit sein, umkehren, zufrieden sein über meine Teilnahme. Aber ich bleibe stehen wie festgenagelt. Das Klirren in meinem Ohr wird immer lauter. Ich spüre meine leere Hand. Mir ist, als hätte jemand anders die Flasche geworfen.
Langsam drehe ich mich um, gehe zurück. Hatte ich meine Rolle als aktiver Kunstbetrachter, als handelndes Element dieser Installation nicht gut gemacht? Ich trete aus dem Dunkel, aber während ich das Museum verlasse, beschleicht mich ein unheimliches Gefühl.
Das glatte schöne Glas der Flasche in meiner Hand und dann das Aufschlagen der Scherben geht mir nicht aus dem Kopf. Warum hatte ich das getan? War ich das, die da die Flasche geworfen hatte? Nur, weil es da an der Wand stand? Wem war ich gefolgt? Welche Lust hatte ich gespürt? Ein Gefäss zerschlagen. Nur um das Klirren zu hören? Nur, weil ich ein wenig Angst hatte? Wenn jemand in der Wut einen Stapel Teller an die Wand wirft, kann er sich von modernen Psychotherapeuten versichern lassen, er habe ein Ventil für seine Depression gebraucht und mag so seine Entschuldigung finden. Aber hier? Ich hatte ja gerade nicht eine Grenze überschritten, ich hatte eine Aufforderung erfüllt, war einer Hinweistafel in einem Museum nachgekommen. Warum? Ich hatte doch die Flasche nehmen, etwas auf einen Zettel schreiben, und die Flaschenpost in das Dunkle stellen können, vielleicht ein Gedicht, einen Spruch, gar eine Erfahrung? Das gehört doch eigentlich zur vielbesungenen Tradition der Schiffbrüchigen, die ihre verkorkte Botschaft ins unbekannte Meer warfen, damit mit ihnen nicht ihr Wissen um die entdeckte Insel unterginge. Aber das stand ja nicht an der Wand. Der Künstler hätte das ja sagen können. Etwas Schönes aufschreiben für ein Glasgefäss, und wenn es nur eine Frage ist. Also ist der Künstler schuld? Und was ist mit der Autonomie des Betrachters? In welche Richtung ich auch denke, höre ich das Klirren der Scherben, als hätte ich etwas nicht wieder Gutzumachendes angerichtet. Es wäre doch so leicht gewesen, das nicht zu tun. Welche Missachtung habe ich für jemanden, der Befehle ausführt, der sich entschuldigt, er hätte zerstören, er hätte töten müssen, weil es Gesetz gewesen sei. Mit welcher Sicherheit wusste ich, für mich käme blinder Autoritätsgehorsam niemals infrage. Und hier? Ohne Notwendigkeit, in der Freiheit eines Museumsraumes, auf dem Territorium der Kunst, hatte ich ein schönes, nützliches, unversehrtes Gefäss zerschlagen, was ich sonst nie tun würde. Gewiss "nur" eine Flasche. Aber ist die Tat hier belanglos? Warum bin ich hierher gekommen? Wird die Geste durch den künstlerischen Kontext denn etwa nicht mit Bedeutung aufgeladen? Ich bin doch eben nicht einem beliebigen Hinweisschild im Museum gefolgt, sondern der Aufforderung aus einer Arbeit von Jochen Gerz. Hätte ich den Satz an der Wand nicht anzweifeln können, müssen? Gab es nicht andere Hinweise?
Die Arbeit "Miami Islet" ist Robert Smithson gewidmet, der 1970 einen Inselfelsen vor Vancouver mit Glasscherben überschütten wollte. Greenpeace hatte das verhindert. Da ging es um etwas, Greenpeace hatte eine klare Perspektive, ein Stück Natur war zu retten. Und Robert Smithson ging es um das Experiment, es mit der Natur aufzunehmen und in künstlerischer Freiheit aus einer Felsenkuppe ein "Islet of broken Glass" zu machen, eine andere grünschimmernde Schönheit sichtbar zu machen.
Das Territorium des Museums liegt ausserhalb von zu schätzender Natur. Ausserhalb auch von Realität? Ausserhalb auch von politischer Verantwortlichkeit? Wer meint, solcherart Überlegungen wären ein überdimensionales blow-up angesichts eines kleinen Kunsthappenings, mag sich diese Frage erneut stellen nach einem knappen Parcours durch das Werk dieses Künstlers, der da in Thurgau auffordert, die Flasche zu werfen, oder auch nicht.

Die Publikation zur Ausstellung ist im Shop erhältlich.

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