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Nedjar, Michel (1947)

Ein Leben zwischen Stoffen und Nähmaschinen

Die Eltern Michel Nedjars kamen Anfang der Zwanzigerjahre als jüdische Einwanderer nach Frankreich – die Mutter aus Polen, der Vater aus Algerien. Die Grossmutter hatte auf dem Pariser Marché aux Puces einen Secondhand-Kleiderladen, Michel Nedjars Vater betrieb eine Schneiderwerkstatt. So wuchs Michel, 1947 geboren, in einem Umfeld auf, das von Stoffen und Nähmaschinen geprägt war. Mit 15 Jahren verliess er die Schule und machte selbst eine Schneiderlehre, besuchte später eine Schule für Modedesign und führte bald ein eigenes Nähatelier. Er war auf dem Weg, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. In dieser Zeit, um 1972, entstanden seine ersten Puppen. Diese frühen Exemplare hatten jedoch noch nichts gemein mit den späteren Kunstwerken. Es waren perfekt gearbeitete, kommerzielle Produkte, bestimmt für den Verkauf in Pariser Boutiquen.

Der Bruch mit der bürgerlichen Existenz

Die Kehrtwende erfolgte nach dem Militärdienst Nedjars. Gesundheitliche Probleme zwangen ihn zu einem Sanatoriumsaufenthalt und gaben den Anstoss zu Veränderungen. Zusätzlich war er beeinflusst von der offenen und experimentierfreudigen Stimmung nach 1968. Die Bekanntschaft mit dem Experimentalfilmer Téo Hernandez öffnete ihm die Türen zu neuen Welten. Mit ihm unternahm er Reisen durch Europa, nach Marokko, durch Asien, die Türkei, Afghanistan, den Iran, Indien und Mexiko. Experimente mit halluzinogenen Pilzen, die mexikanischen Märkte mit ihren farbenprächtigen Textilien sowie die Figurenwelten katholischer Totenkulte öffneten seine Sinne für neue Ausdrucks-formen. Magische Rituale, zum Beispiel mit Vodoo-Puppen, zeigten Michel Nedjar, dass Puppen nicht nur als Spielzeuge eine Funktion haben können. Nach seiner Rückkehr entstanden erste künstlerische Puppen, denen die Einflüsse der Reisen deutlich anzusehen sind. Es waren nun nicht mehr Imitationen menschlicher Gesichter, Körper und Kleider, sondern sehr viel freiere, farbenfrohe Arrangements unterschiedlichster Stoffe und Accessoires; jedoch immer noch geprägt von den handwerklichen Fähigkeiten des gelernten Schneiders. Ausgehend von einer ersten gültigen, um 1978 entstandenen Werkgruppe entwickelte sich ein reiches figürlich-plastisches Werk, in dem sich Ausdruck und gestalterische Mittel mehrfach veränderten.

Entdeckung durch Dubuffet

Um 1980 erkannte der französische Künstler und Sammler Jean Dubuffet, der den Begriff „Art Brut“ geprägt hat, die Ausdruckskraft der Werke Nedjars und erwarb einige Arbeiten für seine Collection d’Art Brut. Mit der Aufnahme in diese Sammlung wurde das Werk Nedjars Teil des Interpretationskontextes der Art Brut. Die Zuordnung erschloss Nedjars Œuvre ein erstes Publikum und bildete den Ausgangspunkt für eine breite Rezeption in Dutzenden von Ausstellungen und Publikationen weit über die Grenzen Frankreichs hinaus.

Michel Nedjar – ein untypischer Aussenseiter

Obwohl Michel Nedjar als Aussenseiter-Künstler beziehungsweise als Vertreter der Art Brut gilt, entspricht er doch nur beschränkt dem Bild des in sich gekehrten, verschlossenen Eigenbrötlers ohne soziale Kompetenz. Im Gegenteil: Bereitwillig gibt er Auskunft über seine Arbeiten und reflektiert dabei lebhaft und anschaulich sein Schaffen. Michel Nedjar ist durchaus auch als genuin zeitgenössischer Künstler zu sehen, dessen Werk im klaren Bewusstsein einer Eingebundenheit in eine moderne, hoch technisierte Mediengesellschaft entsteht. Nedjars Werke können also nicht nur in den Kontext volkskundlicher oder historischer Objekte interpretiert werden, sondern auch in ein Umfeld zeitgenössischer Themen und Ausdrucksformen.

Michel Nedjar lebt und arbeitet in Paris.

Ausstellungen