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Helen Dahm: Atelier

Helen Dahm, "Atelier", um 1910, Radierung, 20 x 20 cm, Kunstmuseum Thurgau

Herstellungsjahr: um 1910

Technik: Radierung

Masse: 20 x 20 cm

1910 gestaltet Helen Dahm eine Radierung, die sie später in Gespräch mit der Psychoanalytikerin Regula Witzig als „Selbstbildnis" bezeichnete.

Es handelt sich um eines der frühesten Selbstbildnisse der Künstlerin. Es zeigt sie selbst in ihrem Atelier – nackt und mit einer Handhaltung, die typisch für eine Schwangere ist. Als Gegenüber, gleichsam als Gesprächspartnerin, steht in einer Vase eine Lilie, jene Blume, die in der christlichen Ikonografie als Verweis auf die unbefleckte Empfängnis von Maria verstanden wird.

Sich als Frau im frühen 20. Jahrhundert nackt abzubilden, war eine aussergewöhnlich radikale Selbstdarstellung. Nur vier Jahre zuvor, 1906, hatte es die Avantgardekünstlerin Paula Moderson-Becker als erste Malerin überhaupt gewagt, sich in ähnlicher Haltung mit entblösstem Oberkörper darzustellen. Vielleicht kannte Helen Dahm Paula Modersohn-Beckers Gemälde Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag und hatte sich davon inspirieren lassen.

Für beide Künstlerinnen ist das Verhältnis von Kunst und weiblicher Identität eine existenziell dringende und zeitlebens ungelöste Frage: Modersohn-Becker richtet den wachen, fragenden Blick auf ihr Spiegelbild. Ebenso wach wendet Dahm ihren Blick der grossen Lilie zu, die beinahe in Augenhöhe vor ihr auf dem Tisch steht. Lilien sind mit starker Symbolik aufgeladene Blumen, die in der Kunstgeschichte für die Unschuld, Reinheit, aber auch für den Tod stehen. In der Kunstgeschichte trug der Engel bei der Verkündigung an Maria stets eine Lilie in der Hand. In Helen Dahms Œuvre kommt den weissen Blumen ein besonderer Stellenwert zu: Die Radierung von 1910 ist nur der Auftakt einer ganzen Bildreihe, in der Helen Dahm über Jahrzehnte hinweg Frauen und Lilien einander gegenüberstellte und damit das Verhältnis von Sexualität und Keuschheit vielschichtig betrachtet.

 

Biografie