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Lisa Schiess: "Blauer Turm" und "Gelber Turm"

Lisa Schiess, "Blauer Turm", 1988/1991, 64 Leinwände a 20 x 20 cm, Kunstmuseum Thurgau
Lisa Schiess, "Gelber Turm", 1988/1991, je 64 Leinwände a 20 x 20 cm, Kunstmuseum Thurgau

Herstellungsjahr: 1988

Herstellungsjahr 2: 1991

Technik: farblich grundierte Leinwände

Masse: je 64 Leinwänden a 20 x 20 cm

In ihren beiden zwischen 1988 und 1991 entstandenen Arbeiten „Blauer Turm“ und „Gelber Turm“ stellt die 1947 in Kreuzlingen geborene Künstlerin Lisa Schiess die Grundbedingungen der Malerei als künstlerisches Ausdrucksmittel zur Diskussion. Spätestens nach dem Ende des 2. Weltkriegs war in der Kunst nur noch Eines unbestritten: Die künstlerische Gestaltung kann nicht länger ein unschuldiger Ort der Produktion von schönen Bildern sein. Künstlerinnen und Künstler müssen vielmehr einen substantiellen Beitrag leisten zur Neudefinition einer angemessenen und moralisch richtigen Lebensform. Wie dieser Beitrag allerdings auszusehen hätte, darüber streiten sich Künstlerinnen und Künstler zusammen mit den Kritikern und dem Publikum bis heute.

Mit ihren beiden Türmen konstruierte Lisa Schiess in den 1990er-Jahren eine Versuchsanordnung, mit der sie einen modellhaften Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit den bis heute aktuellen Grundfragen der Kunst einlädt. Jeder Turm besteht aus 64 handelsüblichen Leinwänden, aufgezogen auf traditionellen Keilrahmen, die seit Jahrhunderten als Standard der Malerei gelten. Beim einen Turm sind zehn Tafeln monochrom gelb, beim anderen 22 Elemente blau gefärbt. Die übrigen, weiss grundierten Leinwände tragen je eine Linie, die so gestaltet ist, dass sie sich auf nebeneinanderliegenden Tafeln zu einer zusammenhängenden Zeichnung verbinden kann.
Dieses „Material“ wird im Ausstellungsraum als Turm oder Bild präsentiert, wobei die 64 Quadrate in unterschiedlichsten Konstellationen zu einem Turm oder Bild zusammenfinden können. Dabei ist es nicht die Künstlerin, die festlegt, in welcher Ordnung die Tafeln zu hängen sind. Es ist vielmehr das Publikum – oder allenfalls als deren Stellvertreter die Museumsmitarbeiterinnen und Museumsmitarbeiter –, die die Komposition bestimmen. Das Publikum wird damit aktiv in die Frage nach der richtigen Form und dem „guten Bild“ einbezogen. Es kann im Rahmen der von der Künstlerin vorgegebenen Spielregeln entscheiden, ob eher eine regelmässige Konstruktion oder eine asymmetrische erstellt werden soll, ob die Linien sich zu einem Zeichen formen oder als abstrakte, eigenständige Elemente verstanden werden sollen, ob es eine Ordnung gibt oder eher eine Unordnung, ja, was es denn bedeutet, wenn bestimmte Konstellationen als Ordnung oder Unordnung gesehen werden. All diese Entscheidungen basieren auf der Vorstellung dessen, was ein Bild ist und was es zu leisten hat. Indem die Künstlerin dem Publikum überlässt, wie denn das Bild auszusehen hat, übergibt sie diesem zumindest teilweise auch die Verantwortung über das Bild und seine gesellschaftliche Funktion.
Es besteht zudem die Möglichkeiten, die Bildtafeln als Turm geschichtet zu präsentieren und auch da gibt es unterschiedliche Versionen der Inszenierung. Wie in der Fläche lässt sich die Präsenz von Form im Raum oder die Wirkung von unterschiedlichen Stapelungen von Tafeln spielerisch erproben. Mit der Aufstellung in der dritten Dimension verschiebt sich dabei die ästhetische Auseinandersetzung auf die Ebene des Plastisch-Architektonischen. Die Materialität der Keilrahmen und Leinwände sowie die Spuren der Farbe auf den Rändern werden zu Ausgangspunkten für modellhafte Untersuchungen, die sogar städtebauliche Dimensionen annehmen können.
Die auf den ersten Blick spielerische Beschäftigung mit Bildelementen enthält den Anstoss für eine differenzierte, tiefgreifende Auseinandersetzung nicht nur mit Form- und Kompositionsfragen, sondern darüber hinaus mit den Gesetzmässigkeiten der Wahrnehmung von Farbe, Form und Raum überhaupt. Letztlich fordert die Künstlerin mit ihrem Angebot zum Spiel mit ihren Tafeln dazu auf, sich grundsätzliche Gedanken über die Gestaltung der Bilder, der Räume, ja letztlich der Gesellschaft zu machen.


 

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