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Messmer, Dorothee

Adolf Dietrich. Malermeister - Meistermaler

Einführung

Einführung zur Publikation "Adolf Dietrich. Ein Glossar", die parallel zur Ausstellung "Adolf Dietrich. Malermeister - Meistermaler" 2002 erschien. "Dein gutes und aufrichtiges Herz, wenn auch zu geneigt, jedem offen sich auszusprechen, hat Dir manche Unannehmlichkeiten verursacht, und doch vertraust Du Personen, die Dir schmeicheln, um Dich zu täuschen. Du beurteilst die ganze Welt nach Deiner Rechtschaffenheit, weil Du niemandem misstraust und so wegen Deiner Gutherzigkeit für einfältig gehalten wirst; aber Dein Planet verheisst Dir Glück und Wohlstand […]"

Obschon vom Künstler schriftlich angefordert und offenkundig ein Massenprodukt, beschreibt die "Charakterbeschreibung nach Mlle. Lenormand" sehr treffend die Wesenszüge, die Adolf Dietrich in den Augen seiner grossen Verehrerschaft bis heute auszeichnen. Der Maler aus Berlingen am Untersee hat seine Umgebung - Menschen, Tiere und Landschaft - in einem eigenständigen Stil zwischen naiver Unbeschwertheit und magischem Realismus festgehalten. Seine Bilder sind heute international hochgeschätzt und erzielen an Auktionen Höchstpreise. Ebenso ungebrochen ist das grosse Interesse an der Lebensgeschichte des einfachen Kleinbauers, der zum gefeierten Künstler avancierte. Seine zurückhaltende Persönlichkeit und seine, wie es Beat Brechbühl ausdrückte, "wache Lebensneugier, lockere Ironie, verschmitzte Ernsthaftigkeit”, die einen “wie ein starker, sympathischer Blitz befallen", faszinieren bis heute und sind Kern unzähliger Geschichten und Mythen über den Künstler.
Werke von Adolf Dietrich bilden im eigentlichen Sinn den Kern der Sammlung des Museums. Und seit 1994 ist der Nachlass des Künstlers, den er noch zu Lebzeiten der Thurgauischen Kunstgesellschaft vermacht hatte, als Dauerleihgabe hier deponiert. Einzigartige Bilder wie Balbo, auf der Wiese liegend, von 1956 oder die Abendstimmung am See, von 1919 erweitern so die museumseigene Sammlung auf ideale Art und Weise.

Adolf Dietrichs Werkstatt
Zusätzlich zu den Meisterwerken in Öl gelangten verschiedenste Materialien in das Archiv des Museums und wurden während der letzten Jahre wissenschaftlich aufgearbeitet.
Den kostbarsten Teil des Nachlasses bilden zweifellos die bildnerischen Materialien, die Dietrich als Vorlagen für sein Schaffen benutzte und in denen sich sein künstlerisches Denken auf engstem Raum überblicken lässt. Unzählige Skizzenbücher, Landschafts- und Tierstudien, aber auch Pausen und bisher unbekannte prachtvolle Pastellzeichnungen geben einen profunden Einblick in die Arbeit des "Malermeisters von Berlingen", wie Dietrich sich selbst bezeichnete.
Neben den bildnerischen Werken sind im Nachlass auch tausende von Fotografien erhalten. Unzählige Aufnahmen vom Nachbarsgarten, vom See und den umliegenden Hügeln, von Bäumen oder Blumensträussen zeugen von Dietrichs Vorgehensweise, sich Bildinhalte für eine spätere bildnerische Umsetzung fotografisch anzueignen. Aber auch das Leben in Berlingen, der Jahrmarkt, die Schiffsankunft oder das Turnerfest, Freunde und Bekannte sowie einmalige Ereignisse wie Hochwasser oder der Brand des Nachbarhauses, fanden das Interesse des Malers als Fotograf.
Darüber hinaus erzählen tausende von Briefen von Dietrichs Denken, seinen Beziehungen und seinem Umfeld. Sie berichten von den sozialen Aktivitäten des Künstlers und vom kleinbäuerlichen, ländlichen Leben am Untersee. Sie geben Aufschluss über den Verkauf der Bilder und die Beziehungen zu Museumsleuten und Galeristen. In einmaliger Art und Weise ermöglichen sie aber auch einen Zugang zur inneren Befindlichkeit Dietrichs und erzählen von anfänglichen Schwierigkeiten des Malers, dem steigenden Selbstbewusstsein, der Freude am Erfolg und dem parallel einher gehenden Misstrauen und der Verbitterung im Alter.

In den vergangenen Jahren sind die im Nachlass enthaltenen Materialien zuerst gesichtet, dann geordnet und schliesslich in eine museale Aufbewahrung überführt worden. Parallel dazu verlief eine inhaltliche Auseinandersetzung, in deren Verlauf das Schaffen von Adolf Dietrich in all seinen Teilen einer intensiven Befragung unterzogen wurde.
In der parallel zur vorliegenden Publikation gezeigten Ausstellung "Malermeister-Meistermaler. Adolf Dietrichs Werkstatt" stehen die Schätze aus dem Nachlass des Künstlers denn auch im Zentrum: Durch die Ergänzung mit herausragenden Gemälden und die Gegenüberstellung von Skizzen und Ölbildern, die aus diesen Vorgängen resultierten, sind Dietrichs künstlerische Strategien auf einmalige Art und Weise einsehbar. Gemeinsam mit der Publikation, die sich der Korrespondenz des Künstlers widmet und mit Fotografien bebildert ist, werden die im Laufe dieses Prozesses gewonnenen Erkenntnisse einer breiten Oeffentlichkeit vorgestellt und zugänglich gemacht. Sie dienen aber auch dazu, das Schaffen dieses populären Künstlers anhand der vorliegenden Ergebnisse neu zu bewerten.

Dokumente - Nachrichten - Entwürfe
Das vorliegende Buch bezieht einen grossen Teil seines Inhalts aus den Briefschaften, die sich als schier unerschöpfliche Informationsquelle erweisen. Dietrich hat in der Regel alles Geschriebene unabhängig von seiner Bedeutsamkeit aufbewahrt, so dass sich heute neben Schriftstücken und Entwürfen des Malers selbst Briefe von über tausend Korrespondenzpartnern und -partnerinnen im Nachlass befinden. Die Bandbreite ist gross. Sie reicht von kurzen Nachrichten, Neujahrskärtchen und beschriebenen Notizzetteln über Briefe von Kunden bis hin zu langjährigen Kontakten mit Freunden, Förderern und Familienangehörigen, die teils hundert und mehr Dokumente umfassen.
Der mittlerweile geordnete Fundus belegt und veranschaulicht zum einen bereits Bekanntes über den Thurgauer. Legendär ist seine einfache Lebensweise, die Anstoss zu unzähligen Geschichten über den Maler gab und durch die Briefschaften illustriert wird. Bekannt ist seine Liebe zur Natur und zu deren Geschöpfen, speziell den Vögeln, die sich in Gedichten, der Fürsorge für verletzte Tiere oder in Erfindungen für Marderfallen wiederspiegelt.
Viele Dokumente zeugen vom offenherzigen Vertrauen, das Dietrich seinen Mitmenschen entgegengebrachte. Er bietet unzähligen Besuchern Zugang zur seiner Wohnung, gewährt Kindern und Erwachsenen beinahe uneingeschränktes Gastrecht und macht seine Stube zum Zentrum der Berlinger "Abendgesellschaften". Grosszügig verschenkt er Skizzen und Zeichnungen und verschickt mehrere Bilder zur Auswahl in fremde Haushalte.
Ein umfangreicher Teil der Korrespondenz befasst sich mit dem geschäftlichen Bereich des Künstlerlebens. Die Zuschriften seiner Kunden dokumentieren Dietrichs manufaktur-mässige Arbeitshaltung. Sie teilen ihm ihre Wünsche brieflich mit, erhalten verschiedene Vorlagen zur Auswahl und geben ihre Bilder bei Nichtbedarf oder Nichtgefallen wieder an ihn zurück. Viele Schriftstücke zeugen von den Schwierigkeiten, die sich durch die steigende Nachfrage nach den Bildern für den Künstler ergaben. Der chaotische und problematische Umgang mit Reservationen und Anzahlungen ist bereits durch Heinrich Ammann herausgehoben worden und wird durch diverse, teils sehr emotionsgeladene Dokumente verdeutlicht. Auch die zuweilen direkte Art und die fast kindliche Unbeschwertheit, mit der Dietrich "wichtige Kontaktpersonen" um Hilfe bei seinen Transaktionen bat, ist bereits bekannt und wird im vorliegenden Band illustriert.
Viele Erkenntnisse über das Leben des Malers erhalten aber im neuen Kontext einen tieferen Sinn. So zeigt es sich gerade im Zusammenhang mit der Einbindung von Drittpersonen, wie zielsicher Dietrich diese für seinen Bilderhandel zu instrumentalisieren wusste. An der beflissenen Fürsorge seiner Freunde, die ihn gegen alles und jeden verteidigten - bis hin zum "Fechten für den hilflosen Adolf Dietrich" (Herbert Tannenbaum) - war er also nicht ganz unschuldig.
Auch die Beziehungen zum anderen Geschlecht sind komplexer als bisher vermutet. So war bereits bekannt, dass die Suche nach einer weiblichen Person an seine Seite erfolglos und der scheue Künstler bis zu seinem Tod alleinstehend blieb. Die Auswertung der Briefschaften hat jedoch ergeben, dass Dietrich verschiedene Kontakte zu Frauen über längere Zeit hinweg aufrecht erhielt und vertiefte. In allen Fällen aber kam der Kontakt in dem Moment zum Stillstand, als Entscheidungen erwartet wurden.

Im Bereich der Fotografie ergaben sich ebenfalls neue Erkenntnisse. Die Briefe zeigen, dass Dietrich sich bereits 1927 rege mit Fotografieren beschäftigte und Ratschläge von seinem Neffen entgegennahm, der ihm die Schnappschüsse entwickelte. Früh interessierte er sich auch für Farbaufnahmen. Die Fotografie erweist sich als wesentliches Element im bildnerischen Denken des Malers. Bei der Auswahl von möglichen Bildvorlagen liess er nicht locker, bis er eine Fotografie des begehrten Bildausschnittes erstellen konnte. Erschien ihm die Ablichtung zu schwierig, delegierte er die Arbeit an befreundete Berufs- und Hobbyfotografen.
Auch die Stellung der Familie wird neu hinterfragt. So muss die Bedeutung seines Bruders Albert für Adolf nach der Durchsicht der Briefschaften weitaus höher eingeschätzt werden, als bisher angenommen. Gerade zu Beginn der künstlerischen Tätigkeit und während der Zeit des ersten Erfolgs in Deutschland ist der kritische Rat des Bruders und seine Mithilfe bei den Ausstellungen für den jüngeren Bruder von grösster Bedeutung.
In Dietrichs Rezeption bis jetzt massiv unterschätzt worden sind die vielfältigen Künstlerkontakte und -Freundschaften, die der Berlinger Maler mit verschiedensten Kollegen und Kolleginnen pflegte. Und neu ist die Tatsache, dass er nicht nur Bilder ankaufte, sondern sich auch mit der Vermittlung und dem Verkauf von Werken anderer Künstler und Künstlerinnen betätigte.
Wichtige Bereiche der Publikation befassen sich mit der Persönlichkeit Dietrichs und greifen auch Themen auf, die sich mit den negativen Aspekten in seinem Leben auseinandersetzen. So ist der Zusammenhang von Erfolg und Verbitterung unübersehbar. Eine steigende Überforderung und das Unvermögen, sich abzugrenzen und eine klare Haltung einzunehmen, trugen zur Missstimmigkeit im Alter bei.
Neben personenbezogenen Erkenntnissen bergen die Briefschaften aber auch einen reichen Fundus an sozialhistorischen Informationen. Sie geben einen einzigartigen Einblick in den Alltag einer thurgauischen Gemeinde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die geprägt war vom einfachen Leben (-skampf) der kleinbäuerlichen Bewohner. Sie zeigen eine Welt, in die die Technik von heute noch nicht Einzug gehalten hatte, in der Kühlschränke und Telefon noch aussergewöhnliche Errungenschaften darstellten und das Schreiben von Briefen und Postkarten die tägliche und alltäglich-gewohnte Norm war.

Das Buch als Glossar
Die vorliegende Publikation nähert sich dem Künstler in Form eines Glossars, einer alphabetisch gegliederten Sammlung von Themen, die sich durch die Lektüre der Korrespondenz (für die Schreibende) als relevant herausgestellt haben. Adolf Dietrich von A bis Z gewissermassen. Dabei enthält es sich zusammenfassender Interpretationen und verweigert endgültige Aussagen. Dies geschieht aus folgenden Gründen:
Adolf Dietrichs Leben weckt - parallel zu anderen Aussenseiter-Künstlern - mit märchenhaften Parallelen zu “Aschenbrödel” oder zum “tapferen Schneiderlein”, unsere Sehnsucht nach Geschichten und Pointen. Diese markierten denn auch sein Leben, erzählt in all den kleinen und grossen Erinnerungen aus erster, zweiter und dritter Hand, die über ihn in Umlauf sind. In diesem Zusammenhang kommen die Begriffe “wahrhaftig”, “echt” und “authentisch” oft zur Verwendung und sind wichtige Metaphern in Rezeption und Bewertung. Kindliche Unschuld, Naivität und ursprüngliches ästhetisches Handeln sind dem Berlinger Maler unwiederbringlich zugeschrieben. Es ist dies eine Suche, verhaftet in der romantischen Vorstellung des Genies. Der Thurgauer Altnationalrat Ernst Mühlemann bezeichnete sie in einem Referat über den Künstler einmal als Sehnsucht nach dem “Paradis Terrestre”, das sich gerade in den Bildern und im Werk eines Aussenseiter Künstler besonders offenbare. Die Sehnsucht nach dem Echten, dem Wahrhaftigen, lässt sich im Leben und Werk des Berlinger Kleinbauern scheinbar modellhaft erfahren und begreifen, der Künstler wird zum Medium einer Erfahrung von Authentizität.
Gekoppelt an diese Erfahrung ist natürlich der Wunsch, das endgültige, eben richtige Bild des Künstlers in Erfahrung zu bringen - die Erwartung an eine Vermittlung des authentischen Blicks auf den authentischen Künstler. Aber wo ist sie, die letzte gültige Wahrheit? Ist nicht alles, was wir über eine Figur, die das Interesse verschiedenster Menschen weckt und zu subjektiven Empfindungen führt, sammeln, interpretieren und weitergeben, eine Projektion und letzten Endes ein Beitrag zu dessen Mythos? Der schlüssige, endgültige Blick auf Adolf Dietrich wird immer ein vorläufiger bleiben.
Selbst die vermeintlich authentische Form des Glossars unter Verwendung von "echten" Dokumenten macht Interpretationen unsererseits unumgänglich. Durch die Auswahl der Briefe, deren Kürzung, Zusammenstellung und Gliederung sind wir wieder zu Inszenierenden von Bildern geworden. Zu hoffen ist, dass die Vielzahl von bereits bekannten und neuen, von bestätigenden und kontroversen Bildern Adolf Dietrich als facettenreiche und vielschichtige Persönlichkeit wiedergibt. Damit gelingt es vielleicht, den Künstler als einen Menschen mit komplexem Innenleben zu begreifen, der sich den bestehenden Mythen weder verweigert noch gesamthaft entspricht. Beat Brechbühl sagt es anders: "Es kann sein, dass – aus welchen Gründen immer – beim Namen Adolf Dietrich ein heimlich wohliger Schimmer aufleuchtet, oder eine auseinandersetzungsarme Gutmütigket, oder ein Ruch von Schönem, oder ein anheimelndes Naturgefühl. Ich denke, dass Dietrichs Eigenständigkeit, sein Tagträumen, seine Auffassung von Arbeit einen Dietrich-Mythos nicht verträgt, oder ihm nicht standhalten kann."

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