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Ferdinand Hodler: Der Nussbaum

Herstellungsjahr: 1909

Technik: Öl auf Leinwand

Masse: 107 x 95.2 cm

Provenienz: Schenkung 2020 von Frau Prof. Dr. Iris Zschokke-Gränacher

Auf dem 1909 gemalten Ölgemälde von Ferdinand Hodler (1953–1918) ist ein stattlicher Nussbaum mit weit ausladenden Ästen inmitten einer lichtdurchfluteten Landschaft zu sehen. Ein heller Himmel wölbt sich über sonnenbeschienenen Wiesen und über eine kleine Hügelkuppe, auf der Schattenfelder von einzelnen Bäumen das helle Gras überschneiden. Es ist Sommer: Die Sonne steht hoch, die Schatten sind kurz.
Eine wirkungsvolle Lichtinszenierung liegt diesem Bild zugrunde: Die Landschaft scheint in gleissendes Mittagslicht getaucht, doch das Zentrum des Gemäldes wird durch Schatten akzentuiert. Die dunkle Baumkrone bildet nicht nur den Bildmittelpunkt, sondern wurde vom Künstler zur Hauptansicht des Baumes auserwählt. Der Maler nutzte die Möglichkeit von starken Kontrastsetzungen aus, um die Hitze eines Sommertags zu evozieren. Die Wiese ist in satten Gelbtönen gehalten, die Schatten dagegen schimmern dunkelgrün, bisweilen sogar schwarzblau. Selbst in der Baumkrone – dort wo einzelne Sonnenstrahlen die Blätter erhellen – sind solche Kontrastsetzungen zu beobachten. Hodler bediente sich ähnlicher Mittel wie die Impressionistinnen und Impressionisten: Diese strebten die Darstellung von Lichtsphären in bestimmten Tagesmomenten an − beispielhaft ein paar Jahrzehnte früher Claude Monet mit seiner Serie "Getreideschober". Ähnlich erzeugte Hodler mit einer unmittelbaren Nachbarschaft reiner Farben – gelb, grün, blau und violett – eine unverwechselbare Lichtstimmung. Im Gegensatz zu seinen Vorgängerinnen und Vorgängern setzte Hodler aber bei Stamm und Ästen kräftige, expressionistisch anmutende Pinselstriche ein, womit er dokumentiert, dass er durchaus weiss, mit welchen Ausdrucksformen sich seine jungen Kolleginnen und Kollegen aktuell auseinandersetzen.
Zeitlebens hielt Hodler neben seinen symbolistischen Kompositionen und Landschaften immer wieder einzelne Bäume in Bildern fest. Diese Baumporträts verweisen auf sein Interesse an der Ordnung in der Natur, die sich beispielsweise in den Gesetzmässigkeiten eines Baumwuchses zeigten. Bereits die feingliederigen Bäumchen in frühen Landschaftsgemälden, welche in Hodlers Lehrzeit als Vedutenmaler im Berner Oberland entstanden sind, spiegeln dieses Interesse. Als junger Maler widmete er sich intensiv dem Naturstudium. So besuchte er während seiner Akademieausbildung bei Barthélemy Menn in Genf die Vorlesung des bekannten Geologen, Zoologen und Politikers Carl Vogt (1817–1895) an der Universität in Genf.
In den 1880er-Jahre begann Hodler die Naturansichten in seinen Gemälden in parallelen und symmetrischen Strukturen anzuordnen, um damit eine geordnete und als Einheit erfahrbare Naturgestaltung zu erreichen. Diesen gestalterischen Ansatz bezeichnete er mit dem Begriff "Parallelismus", und erhob ihn zum massgeblichen Prinzip seiner Bildkompositionen. Auch in der Bildgestaltung des Nussbaums klingt der Parallelismus an. Das zentrale Baummotiv wird in den kleinen Bäumen auf dem Hügel mehrfach wiederholt und variiert. Der Baumstamm markiert die Mittelachse des Gemäldes, Äste und Schattenfelder spiegeln sich daran und je zwei Bäumchen stehen sich im Hintergrund gegenüber.
Hodlers Interesse beim Malen eines Baumes ging über die Beschäftigung mit der Wiedergabe von atmosphärischen Lichtstimmungen und mit der Bildkomposition hinaus. Er meinte: "Wenn ich einen Baum auf einer Wiese male, der sich teilweise vom blauen Hintergrund des Himmels abhebt, so bilden diese drei Gegenstände für mein Auge und mein Herz ein Einziges und Ganzes. Von diesem Ganzen trage ich eine mehr oder weniger anhaltende Empfindung davon." Für Hodler ging es also nicht um das Bild oder Abbild eines Baums auf einer Wiese, sondern um das Erzeugen einer Empfindung beim Betrachtenden. Dabei kann der Künstler auf eine lange Tradition der symbolischen Bedeutung von Bäumen zurückgreifen. Vorstellungen eines Weltenbaums, der als Achse das Zentrum des Kosmos darstellt, kursierten ebenso häufig wie die Idee eines Paradies- oder eines Lebensbaums.
Der Grösse nach scheint der Nussbaum auf Hodlers Gemälde ausgewachsen und in seiner Altersphase angekommen zu sein. Auch Hodler erreichte zu diesem Zeitpunkt ein gestandenes Alter und genoss seinen Erfolg als Künstler. Er galt um 1900 als bekanntester Schweizer Maler. Sein internationaler künstlerischer Durchbruch im Jahr 1904 an der 19. Secessions-Ausstellung in Wien zog zahlreiche Aufträge und Ausstellungsanfragen nach sich. So aufrecht und kräftig wie der Baum auf der Wiese stand Hodler in jenen Jahren in der europäischen Kunstszene.

Literatur:

  • Kunstmuseum Bern und Musées d’art et d’histoire de Genève (Hg.), Hodler//Parallelismus, (Ausst.Katalog, Kunstmuseum Bern & Musées d’art et d’histoire de Genève), Zürich: Scheidegger & Spiess, 2018.
  • Oskar Bätschmann, Paul Müller u. Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (Hg.), Ferdinand Hodler. Catalogue raisonné der Gemälde, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2008.
  • Oskar Bätschmann, «Das Landschaftswerk von Ferdinand Hodler» in: Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (Hg.), Ferdinand Hodler. Landschaften, Zürich: Schweizer Verlagshaus, 1987, S. 2548.

Text: Astrid Sedlmeier

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