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Landert, Markus

Jon Etter: Entleerte Räume

Text: Publikation "John Etter. Irritierte Räume", Weinfelden 2005

Jon Etter fotografiert Räume. Gezeigt werden räumliche Strukturen, die mit ganz unterschiedlichen Mitteln erzeugt wurden. Manchmal sind es Bauvisiere auf einer Wiese, manchmal Zäune oder Bauten und manchmal auch nur eine temporäre Beleuchtung, die einen Raum auszeichnen.
Seine Motive sucht sich Jon Etter in einem langwierigen Rechercheprozess sorgfältig aus. Während des achtmonatigen Aufenthaltes in Berlin sind gerade etwas mehr als ein Dutzend Fotografien entstanden, die er als gelungene Bilder anerkennt. Die strenge Auswahl weist darauf hin, dass der Fotograf nicht nach einer umfassenden Abbildsammlung von unterschiedlichen Raumstrukturen strebt. Sein Interesse gilt vielmehr nur ganz bestimmten Raumerscheinungen. Wie diese beschaffen sind, erschliesst sich, wenn unterschiedlichen Motivgruppen in Jon Etters Werk auf ihre Gemeinsamkeiten hin untersucht werden.
Allen Fotos gemeinsam ist ein Eindruck von Leere und oft auch Verlassenheit. Es könnte fast behauptet werden, dass Jon Etter leere Räume fotografiert. Die Idee des leeren Raumes ist allerdings eine heimtückische Vorstellung, besonders im Bereich der Fotografie, die Räume immer nur als blossen Schein erstehen lassen kann. Wer fragt, warum ein Raum leer wirkt, muss zuerst klären, wodurch der Eindruck eines Raumes überhaupt entsteht. Im Alltagsdenken ist ein Raum meist ein durch feste Mauern oder Zäune eingefriedeter Bereich. Gebäude enthalten Räume, in denen wir uns ständig bewegen, was unsere Alltagsvorstellung von Raum entscheidend prägt. Räume sind aber weit mehr als materielle Gehäuse. Es sind ausgeschiedene Zonen, denen ganz bestimmte Nutzungen zugeschrieben werden: Im Schlafzimmer wird geschlafen, im Wohnzimmer gewohnt, in der Küche gekocht. Im Strassenraum bewegt sich der Verkehr, im Fussgängerbereich wird gegangen. Der Privatraum ist intim, der öffentliche Raum gehört allen. Räume grenzen ein und grenzen aus, durchdringen und ergänzen sich vielfältig. Wo Menschen zusammenleben, definieren sie funktionale Zonen. Diese regeln die gesellschaftlichen Abläufe und sind für das Funktionieren der Gesellschaft unabdingbar. Konkret produziert werden gesellschaftliche Räume mit Zeichen wie Zäunen, Markierungen oder aber mit baulichen Massnahmen. Architektur ist dabei ebenso Zeichensystem wie funktionale Struktur zur Realisierung der den Räumen zugewiesenen Aufgaben. Auch sonst gehen Zeichenhaftigkeit und Funktionalität meist Hand in Hand. Eine Strasse ist nicht nur Fahrbahn, sondern auch komplexe Zeichenstruktur, die das Miteinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer minutiös regelt.
(Die Fotografie selbst hat übrigens lediglich den Bildraum anzubieten, der, wie wir alle wissen, zweidimensional ist, also kein wirklicher Raum. Auf einer Fotografie verdampft der reale Raum zu einer Illusion. Aus diesem Grund muss sich die Fotografie zwangsläufig darauf beschränken, den Raum scheinhaft zu erzeugen. Auch in den Fotografien von Jon Etter entsteht die scheinhafte Vorstellung von Raum stets durch eine Konstellation von Zeichen, die wir kraft der Konvention der Perspektive als Raum lesen.)
In der Stadt des 21. Jahrhunderts gibt es längst keine Leerstellen mehr. Alle Räume sind verteilt. Jeder Fleck ist in Besitz genommen und kartografiert. Was es allenfalls gibt, sind verlassene Räume, Stadtbrachen, Räume ohne eindeutig definierte Nutzung. Jon Etter zeigt in manchen Fotografien solche Zonen. Der Eindruck von Leere und Verlassenheit entsteht in diesen Fotografien, weil es keine sichtbaren Zeichen mehr gibt für jene Aktivitäten, die wir aufgrund der Raumnutzung eigentlich an diesem Ort erwarten würden. Die Hinweise auf die Nutzung des Raumes und die Zeichen dafür, dass diese Nutzung nicht mehr realisiert wird, heben sich gegenseitig auf. Beim unbespielten Fussballplatz, einem eingezäunten Geviert mit vernachlässigtem Rasenbewuchs, dem Rummelplatz ohne Kinder fehlt die Eindeutigkeit der Raumdefinition. Die sichtbaren Zeichen sind widersprüchlich, wodurch die Verbindlichkeit der Räume aufgehoben wird. Der materielle Zerfall ist dabei weniger wichtig als der Verlust einer eindeutigen Funktion. Die Räume sind nicht zerstört, sondern sinnentleert. Leere erweist sich als Aufhebung von Bedeutung.
Auf den Fotografien mit den Visieren verhält es sich ähnlich, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Hier entsteht die Leerstelle durch die Neutralisierung des Raumes vor dessen Besetzung durch eine neue Nutzung. Das Visier zeigt an, dass aus dem Landwirtschaftsgebiet ein privater Wohnbereich wird. Im Moment, wo das Visier steht, ist die Wiese das eine nicht mehr, das andere noch nicht. Der Raum befindet sich in einem Übergangszustand. Ein Bedeutungswechsel wird angezeigt.
Anhand einer dritten Werkgruppe von Jon Etter, der Berliner Nachtaufnahmen, zeigt sich ein weiterer Aspekt der Intention des Fotografen. Auch diese Räume sind menschenleer. Nicht aufgegeben, nicht unbelebt, sondern nur gerade für einen Moment ohne Menschen. Als raumbildendes Element erscheint in diesen Fotografien das Licht, das den Blick führt und eine Spielfläche mit diffusen Rändern auszeichnet. Raum erweist sich hier als temporärer Bereich der Aufmerksamkeit, der den, der ihn betritt, sichtbar macht und ihm Bedeutung verleiht. Das Theatralische der Lichtsituation weist den an sich banalen Ort symbolisch überhöht als Bühnenraum aus, als einen jener Orte, auf den sich Aufmerksamkeit konzentriert. Das Licht hebt aus dem Dunkel der Stadt einen potentiellen Schauplatz hervor, der sich allerdings mit dem Löschen der Scheinwerfer radikal wieder im Nichts auflösen wird. Die Räume der Nachtaufnahmen entstehen so definitiv nicht mehr durch architektonische Setzungen. Sie manifestieren sich vielmehr nur als flüchtige Erscheinung, gleichsam wie für das Auge des Fotografen erzeugt und wie nur von diesem gesehen.
Das eigentliche Interesse von Jon Etter gilt also offensichtlich dem Vergänglichen, Provisorischen und dem Vagen. Gezeigt werden Häuser vor dem Bau, aufgegebene Infrastrukturen oder ungesicherte Schauplätze. Zu sehen sind immer Situationen im Wandel, Zonen im Zustand der Veränderung, fragile Lichträume, deren Auslöschung spätestens durch das Licht des Tages erfolgt. Da die einzelne Fotografie nicht wie der Film Veränderungsprozesse festhalten kann, zeigt der Fotograf sich widersprechende oder zumindest ambivalente Zeichensätze, die auf je unterschiedliche Nutzungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweisen. Die Gleichzeitigkeit der Verweise auf das, was vielleicht mal war oder das, was vielleicht mal sein wird, regt nicht nur die Fantasie von Betrachterinnen und Betrachtern an, sondern sie verleiht den Fotografien von Jon Etter auch eine schillernde Mehrdeutigkeit. Die vermeintliche Festigkeit unserer Raumerfahrungen erfährt dabei eine hintergründige Irritation. Gerade jenes Strukturelement der Wirklichkeit, das als Architektur, als fest gefügte, räumliche Setzung das Leben in vermeintlich unverrückbare Bahnen lenkt, erweist sich in den Fotografien von Jon Etter als fragiles und ambivalentes Erfahrungsfeld. Wer da genau hinschaut, dem entflieht plötzlich die Festigkeit von Raum und Wirklichkeit vor Augen.

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