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Fehlmann, Isabelle

Das Ittinger Ei im Internationalen Dorfladen

Tritt man durch das grosse Eingangstor der Kartause Ittingen, öffnet sich ein faszinierender Mikrokosmos: moderne Gästehäuser, kleine Werkstätten und das Herz der Anlage, das alte Klostergebäude, indem sich das Kunstmuseum Thurgau befindet. Die Kartause Ittingen ist Museum, Hotellerie, Gastwirtschaft, Landwirtschaft, betreutes Wohnen und Arbeiten zugleich; sie vereint Geschichte und Moderne, Konservierung und Fortschritt – eine Welt für sich, die alle Sinne anspricht und die Neugier weckt.

„Der Internationale Dorfladen“
Die Londoner Künstlerin Kathrin Böhm entdeckte diese reiche Vielfalt im Sommer 2012, als sie im Rahmen einer Ausstellung zum Thema Handwerk das Projekt „Der Internationale Dorfladen“ im Kunstmuseum Thurgau ausstellte. Den „Internationalen Dorfladen“ betreibt Kathrin Böhm zusammen mit Wapke Feenstra und Antje Schiffers im Kollektiv „myvillages.org“. Der Laden ist kein stationärer Handelsort sondern ein Konzept. Temporär – manchmal auch nur für einige Stunden – wird er an den verschiedensten Orten von den drei Frauen eingerichtet. International dabei sind die Produkte, die gehandelt werden: Pferdemilchseife aus dem holländischen Friesland, bunt bemalte Blumentöpfe in Form eines Wohnwagens aus Ballykilar in Nordirland oder Butterlöffel mit dem Fussabtruck eines Frosches aus dem Dorf Höfen in Süddeutschland.
„Dorfladen“ steht für das Kleinräumige, denn alle Produkte sind an einen spezifischen Ort gebunden. Sie werden von Menschen aus diesem Ort zusammen mit den Künstlerinnen von „myvillages.org“ ausgedacht, designt und hergestellt. Dem voraus geht stets die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Ort, seiner Geschichte und seinen Eigenheiten. So entstehen die Waren aus einer kollektiv gefundenen Idee heraus. Inspiriert von Joseph Beuys Gedanken der „sozialen Plastik“ handeln „myvillages.org“ nach der Idee, dass jeder künstlerisch tätig sein kann und Kreativität ein verbindendes Element der Gesellschaft ist. So war es der Frauenverein eines kleinen Dorfes, der den Blumentopf kreierte. Und die Pferdemilchseife wurde auf einem Pferdebauernhof produziert.
Die Kartause Ittingen als Lokalität traditioneller und zeitgenössischer Produktion ist ein idealer Platz, über Herstellung, Handwerk und Wertvorstellungen nachzudenken und hier selbst ein Produkt für den Internationalen Dorfladen zu entwickeln. Gemeinsam mit dem Kunstmuseum Thurgau wurde das Projekt zunächst unter dem Arbeitstitel „Neue Ittinger Ware“ im Sommer 2012 initiiert.

„Das Ittinger Ei“
Kathrin Böhm liess sich die Kartause Ittingen von Mitarbeitenden aus verschiedenen Bereichen der Kartause näherbringen. Gemeinsam wurde die Anlage erkundet und Eigenheiten festgehalten, die den Alltag prägen: Hopfenernte, Froschquaken, Rosen, Pferdemist, Kräuterlabyrinth, historische Mauern... Vieles kam zusammen, floss in die gemeinsame Arbeit ein. In einem kreativen Prozess bildeten die Ideen und Gedanken der Gruppe den Grundstein für eine Ware. Gemeinsam wurde ausprobiert, getüftelt, kreiert und wieder verworfen bis eine vollständige Konzeption gefunden war: Materialien, Form und handwerkliche Fertigung verbanden sich zu einem Produkt mit zwei ortsspezifischen Eigenheiten: Hopfen und Geheimnis.\t
Hopfen wird in der Kartause Ittingen grossflächig angebaut. Sein Fasermaterial – ein Abfallprodukt der Bierherstellung – bildet getrocknet und geschnitten eine stabile Masse, eine Mischung aus Papier und Karton, in der aber die widerspenstige Faserung der zähen Pflanze deutlich sichtbar bleibt. Es gelang, dem Hopfenmaterial eine Ei-artige Form mit versiegelter Öffnung zu geben. Die Form ist klein genug, um sie mit einer Hand zu umfassen und gross genug, um etwas darin zu verschliessen.
Dazu kommt das Geheimnis. Die Kartause Ittingen blickt auf eine fast 1000jährige Geschichte zurück, Nutzung und Besitzer wechselten im Laufe der Jahrhunderte und verschiedene Ereignisse prägten ihre Zeit. In der alten Klosteranlage verbergen sich hinter verdeckten Türschlössern Verstecke für wertvolle Bücher und drehbare Schränke als Aufbewahrungsorte für Reliquien. Ein verschachteltes System von Wegen durchzieht das Gelände, angefangen beim grossen und kleinen Kreuzgang im Kloster setzt es sich im Aussenraum fort und erschliesst Gärten, Restaurant, Werkstätten und Gästehäuser. Die ganze Anlage ist geheimnisumwittert, einigen kann man auf den Grund gehen, andere werden für immer im Verborgenen ruhen. Gemeinsam mit der Künstlerin verbanden die an der Ideenentwicklung Beteiligten diese beiden Eigenheiten zum Kunstwerk: Hopfenform und das Geheimnis, das sie umschliesst. Welche Gestalt sollte das Geheimnis haben? Keine bestimmte, sondern viele, all diejenigen nämlich, die die Menschen der Kartause Ittingen ihm geben wollten. Sie alle formten aus einem Stückchen Ton ihr ganz individuelles Geheimnis, das im offenen Feuer gebrannt wurde. Jede Hopfenform birgt nun ein solches Geheimnis, zusammen mit einer kleinen Seifenkugel mit Rosenduft und einem getrockneten Samen aus der hauseigenen Gärtnerei.

Wie ein Portrait
Das „Ittinger Ei“ hat für sich genommen keine direkte Funktion. Sein Sinn erschliesst sich über seine Entstehung: der kreative Prozess einer ganzen Gruppe inspiriert vom Nachdenken über einen Ort. In seiner Materialität verkörpert das „Ittinger Ei“ lokales Wissen und kleinräumiges Handeln. Dienstleistung und Produktion sind fester Bestandteil der Kartause Ittingen, doch unter dem Banner der Kunst entstand ein Produkt ohne marktwirtschaftlichen Hintergrund und ohne den Anspruch, sich gut verkaufen zu müssen. Das Ittinger Ei spiegelt die Auseinandersetzung mit der Kartause Ittingen, wie ein figurgewordenes Portrait seines Entstehungsortes.
Die Endbestimmung des „Ittinger Ei“ ist es, im „Internationalen Dorfladen“ gehandelt zu werden. Hier treffen am Ende alle von „myvillages.org“ initiierten Waren aufeinander: Das „Ittinger Ei“ reiht sich neben die Pferdemilchseife und den Wohnwagen-Blumentopf. Und hier erschliesst sich das künstlerische Konzept. Im „Internationale Dorfladen“ werden die Produkte zum Verkauf angeboten, gleichzeitig ist der Laden kein profitorientierter Handelsort. Das Programm bricht bewusst mit den gängigen Normen von Wirtschaftlichkeit. Die Geschichte hinter den Produkten gibt ihnen ihren eigentlichen Wert. Und beim Durchstöbern des Ladens wird der Kunde selbst Teil des Konzeptes von „myvillages.org“, indem er konfrontiert ist mit seinen eigenen Vorstellungen von Kleinräumigkeit, Handwerk, Produktion und Wert.

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