Jeckelmann, Christiane /, Landert, Markus
Kunsttherapie - ein Randphänomen der Kunst
Vorwort zur Publikation "Kunst oder was"
Die Kunsttherapie agiert an der Schnittstelle zwischen zwei Begriffs und Denksystemen: der Kunst und der Psychiatrie. Diese Position macht das Potenzial, aber auch die Problematik dieser Therapieform aus. Daraus ergeben sich offene Fragen: Sind die in der Kunsttherapie entstehenden Werke Kunst oder nur Material? Sind sie einer vertieften ästhetischen Betrachtung wert, oder können sie nach Abschluss der Therapie entsorgt werden? Die Publikation "Kunst oder was?" fokussiert auf ein Randphänomen im doppelten Sinn. Sie stellt die Frage, welche Funktion Werke, die während einer Kunsttherapie entstehen, im Feld der Kunst und der Psychiatrie haben können. Die Kunsttherapie agiert an der Schnittstelle zwischen zwei Begriffs- und Denksystemen; der „Kunst“ und der „Psychiatrie“. Diese Position in einem Zwischenraum macht gleichzeitig Potential wie auch die Problematik dieser Therapieform aus. Die Publikation Kunst oder was? unterscheidet sich von vielen Publikationen zu diesem Thema dadurch, dass sie Materialien aus der therapeutischen Arbeit aus dem Blickwinkel der Kunst behandelt. Für einmal richtet sich der Fokus der Kunst nicht auf „Aussenseiterkunst“ oder Produkte aus Ateliers mit Kunstanspruch. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Museums steht vielmehr abgelegtes Arbeitsmaterial aus der therapeutischen Praxis von zwei psychiatrischen Kliniken. Ziel dieser Publikation und der damit einhergehenden Ausstellung ist es nicht, dieses Material zu Kunstwerken aufzuwerten, wie dies in anderen Zugriffen auf solche Materialien oft geschieht. Es geht vielmehr darum, eine Auslegeordnung vorzunehmen, um die Schnittstelle zwischen Kunst und Therapie überhaupt zu thematisieren und als ein Brennpunkt der Auseinandersetzung sichtbar zu machen. Denn nur zu oft werden bildnerische Produktionen, die mit primär therapeutischem Ziel produziert werden, ohne weiteres Nachdenken als Kunstwerke bezeichnet - was sie in einen ganz anderen Interpretationskontext katapultiert. Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit dieses Transfers führt nicht selten zu einer Oberflächlichkeit, die weder der Kunst noch der therapeutischen Fragestellungen dient. Genau diesen leichtfertigen Transfer will diese Publikation thematisieren. Der Titel Kunst oder was? ist denn auch keine Behauptung, sondern eine Frage. Kunst oder was? konstatiert nicht den pauschalen Kunstcharakter des Materials aus der Psychiatrie, sondern macht Vorschläge, unter welchen Prämissen und mit welchen Erkenntnissen auf dieses Material zugegriffen werden kann.
Ausgangspunkt für diese Fragestellung ist ein Materialkonvolut, das sich in den Psychiatrischen Kliniken „Bellevue“ in Kreuzlingen und Münsterlingen ab den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts angesammelt hat. Die Publikation gibt einen ersten und angesichts der Materialmenge zwangsläufig oberflächlichen Einblick in einen Materialberg, der von einer intensiven, kunsttherapeutischen Aktivität in den beiden Kliniken zeugt. Solches Material ist oft weggeschmissen worden und wird noch immer weggeschmissen, hat es nach dem Ende der Therapie seine Funktion doch eigentlich erfüllt. Als Kunstwerk taugt es kaum, da es den Anspruch auf authentischen Selbstausdruck in den wenigsten Fällen erfüllt. Die Publikation geht nun der Frage nach, was da ausserhalb jeder Kunstbehauptung und ausserhalb jeden Marktes überhaupt entsteht. Sie gewährt Einblicke in Material, das normalerweise im Verborgenen bleibt, ohne die Gewissheit zu haben, ob sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Material überhaupt lohnt.
Die verschiedenen Texte in der Publikation greifen aus verschiedenen Perspektiven auf das Material zu: Die Kunsthistorikerin Rebekka Ray beschreibt mit dem klinikfremden Blick der Kunstwissenschaftlerin ihre Erfahrungen bei der Sichtung des Materials im „Archiv“. Die beiden Therapeuten Silvio Lütscher und Thomas Meng, aus zwei unterschiedlichen Therapeutengenerationen stammend, geben in Interviews Einblicke in die alltägliche Praxis des Einsatzes von kunsttherapeutischen Instrumenten. Klinikdirektor Gerhard Dammann entwirft einen Abriss einer Geschichte des Umgangs mit Bildern in der Psychiatrie, während der Museumsdirektor Markus Landert den Umgang mit diesem spezifischen, bildnerischen Material im Spannungsfeld zwischen Therapie und Kunst aus der Perspektive des Kunstsystems thematisiert.
Für die Ausstellung "Kunst oder was?" wurde aus den tausenden von Blättern des Materialkonvoluts eine Auswahl an Arbeiten getroffen, die für die Beteiligten aus jeweils unterschiedlichen Gründen attraktiv waren. Ausstellungsansichten und Reproduktionen von Arbeiten aus den Kliniken von Kreuzlingen und Münsterlingen nehmen denn auch einen wichtigen Raum im Buch ein. Diese sind allerdings mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, handelt es sich doch um eine zwar nicht zufällige aber doch vorläufige Auswahl. Der Auswahlprozess war schnell und intuitiv, ohne theoretisch fundierte Kriterien. Ausgewählt wurde, was entweder formal interessant, inhaltlich anregend oder emotional berührend war. Verwendung fanden zudem Arbeiten, die sich in die improvisierte Ordnung einfügen liessen, die für die Ausstellung und die Publikation entwickelt wurden. Entstanden ist so eine bewusst provisorische Auslegeordnung, die nicht einen Abschluss der Auseinandersetzung mit Material und Thema markiert, sondern erst den Auftakt dazu. Es war durchaus im Sinne der Organisatoren, mehr Fragen zu stellen als zu beantworten: Kunst oder was?
Anlass zu "Kunst oder was?" ist das 175-jährige Bestehen der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Jahre 2015, dem auch die Ausstellung "Auf der Seeseite der Kunst" im Thurgauer Staatsarchiv in Frauenfeld und im Museum in Lagerhaus in St. Gallen sowie die dazu erschienene Publikation gewidmet war. Publikation und Ausstellung zeigten Bilder aus Patientenakten aus dem Zeitraum von 1839 bis 1960, die mit der Titelsetzung "Auf der Seeseite der Kunst" in den Bereich der Kunst verlagert wurden. "Kunst oder was?" ist eine Antwort auf diese Behauptung und meldet Zweifel an, ob ein solcher Transfer Sinn macht.
Es ist kein Zufall, dass diese Auseinandersetzung mit dem Material aus psychiatrischen Kliniken im Kunstmuseum Thurgau stattfinden. Nicht nur liefert das Archiv der beiden Thurgauer Kliniken reiches Material, das Kunstmuseum Thurgau beschäftigt sich auch seit Jahrzehnten mit dem Phänomen der Aussenseiterkunst. Ausgangspunkt dieser Tätigkeit ist eine reiche Sammlung an Naiver Kunst und Art Brut, die Werke namhafter Künstlerinnen und Künstler wie Adolf Dietrich, André Bauchant, Josef Wittlich, Emma Stern oder Hans Krüsi umfasst. Im Gegensatz zu Museen, die auf Aussenseiterkunst spezialisiert sind, profiliert sich das Kunstmuseum Thurgau auch mit Ausstellungen und Publikationen zur zeitgenössischen Kunst. Die Institution ist somit wie kaum ein anderer Ort prädestiniert dafür, einen Beitrag zu leisten zur Auseinandersetzung mit der Schnittstelle zwischen Kunst und Therapie.
"Kunst oder was?", 17.5 x 24 cm, 208 Seiten, Preis SFr. 39.-
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Ausgangspunkt für diese Fragestellung ist ein Materialkonvolut, das sich in den Psychiatrischen Kliniken „Bellevue“ in Kreuzlingen und Münsterlingen ab den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts angesammelt hat. Die Publikation gibt einen ersten und angesichts der Materialmenge zwangsläufig oberflächlichen Einblick in einen Materialberg, der von einer intensiven, kunsttherapeutischen Aktivität in den beiden Kliniken zeugt. Solches Material ist oft weggeschmissen worden und wird noch immer weggeschmissen, hat es nach dem Ende der Therapie seine Funktion doch eigentlich erfüllt. Als Kunstwerk taugt es kaum, da es den Anspruch auf authentischen Selbstausdruck in den wenigsten Fällen erfüllt. Die Publikation geht nun der Frage nach, was da ausserhalb jeder Kunstbehauptung und ausserhalb jeden Marktes überhaupt entsteht. Sie gewährt Einblicke in Material, das normalerweise im Verborgenen bleibt, ohne die Gewissheit zu haben, ob sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Material überhaupt lohnt.
Die verschiedenen Texte in der Publikation greifen aus verschiedenen Perspektiven auf das Material zu: Die Kunsthistorikerin Rebekka Ray beschreibt mit dem klinikfremden Blick der Kunstwissenschaftlerin ihre Erfahrungen bei der Sichtung des Materials im „Archiv“. Die beiden Therapeuten Silvio Lütscher und Thomas Meng, aus zwei unterschiedlichen Therapeutengenerationen stammend, geben in Interviews Einblicke in die alltägliche Praxis des Einsatzes von kunsttherapeutischen Instrumenten. Klinikdirektor Gerhard Dammann entwirft einen Abriss einer Geschichte des Umgangs mit Bildern in der Psychiatrie, während der Museumsdirektor Markus Landert den Umgang mit diesem spezifischen, bildnerischen Material im Spannungsfeld zwischen Therapie und Kunst aus der Perspektive des Kunstsystems thematisiert.
Für die Ausstellung "Kunst oder was?" wurde aus den tausenden von Blättern des Materialkonvoluts eine Auswahl an Arbeiten getroffen, die für die Beteiligten aus jeweils unterschiedlichen Gründen attraktiv waren. Ausstellungsansichten und Reproduktionen von Arbeiten aus den Kliniken von Kreuzlingen und Münsterlingen nehmen denn auch einen wichtigen Raum im Buch ein. Diese sind allerdings mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, handelt es sich doch um eine zwar nicht zufällige aber doch vorläufige Auswahl. Der Auswahlprozess war schnell und intuitiv, ohne theoretisch fundierte Kriterien. Ausgewählt wurde, was entweder formal interessant, inhaltlich anregend oder emotional berührend war. Verwendung fanden zudem Arbeiten, die sich in die improvisierte Ordnung einfügen liessen, die für die Ausstellung und die Publikation entwickelt wurden. Entstanden ist so eine bewusst provisorische Auslegeordnung, die nicht einen Abschluss der Auseinandersetzung mit Material und Thema markiert, sondern erst den Auftakt dazu. Es war durchaus im Sinne der Organisatoren, mehr Fragen zu stellen als zu beantworten: Kunst oder was?
Anlass zu "Kunst oder was?" ist das 175-jährige Bestehen der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Jahre 2015, dem auch die Ausstellung "Auf der Seeseite der Kunst" im Thurgauer Staatsarchiv in Frauenfeld und im Museum in Lagerhaus in St. Gallen sowie die dazu erschienene Publikation gewidmet war. Publikation und Ausstellung zeigten Bilder aus Patientenakten aus dem Zeitraum von 1839 bis 1960, die mit der Titelsetzung "Auf der Seeseite der Kunst" in den Bereich der Kunst verlagert wurden. "Kunst oder was?" ist eine Antwort auf diese Behauptung und meldet Zweifel an, ob ein solcher Transfer Sinn macht.
Es ist kein Zufall, dass diese Auseinandersetzung mit dem Material aus psychiatrischen Kliniken im Kunstmuseum Thurgau stattfinden. Nicht nur liefert das Archiv der beiden Thurgauer Kliniken reiches Material, das Kunstmuseum Thurgau beschäftigt sich auch seit Jahrzehnten mit dem Phänomen der Aussenseiterkunst. Ausgangspunkt dieser Tätigkeit ist eine reiche Sammlung an Naiver Kunst und Art Brut, die Werke namhafter Künstlerinnen und Künstler wie Adolf Dietrich, André Bauchant, Josef Wittlich, Emma Stern oder Hans Krüsi umfasst. Im Gegensatz zu Museen, die auf Aussenseiterkunst spezialisiert sind, profiliert sich das Kunstmuseum Thurgau auch mit Ausstellungen und Publikationen zur zeitgenössischen Kunst. Die Institution ist somit wie kaum ein anderer Ort prädestiniert dafür, einen Beitrag zu leisten zur Auseinandersetzung mit der Schnittstelle zwischen Kunst und Therapie.
"Kunst oder was?", 17.5 x 24 cm, 208 Seiten, Preis SFr. 39.-
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