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Hoch, Stefanie

Das Künstlerduo Glaser/Kunz

Ein Gespräch zwischen Kuratorin und Künstlern

Ausstellungsansicht "Glaser/Kunz - Ich ist ein anderer", 2017

Ein Gespräch zwischen Stefanie Hoch, Magdalena Kunz und Daniel Glaser

Stefanie Hoch (S): Die Arbeiten, mit denen ihr bekannt geworden seid, nennt ihr Kinematografische Skulpturen. Es sind Werke, die sich im Bereich zwischen Skulptur, Videoprojektion und Performance bewegen. Sie versetzen die Betrachter in Erstaunen, weil sie die Illusion lebendiger Wesen erschaffen. Wie kam es zu der Entwicklung dieser Figuren?

Daniel Glaser (D): Wir produzieren mit den Mitteln der Gegenwart Kunst, beziehen technische Möglichkeiten mit ein, arbeiten genreübergreifend. Mit den Kinematografischen Skulpturen haben wir einerseits die Performance verändert, andererseits die Vorstellung, was eine Skulptur bedeutet. Wir haben den eingefrorenen Moment einer Skulptur – und mit den kinematischen Bildern das Statische der Fotografie – aufgelöst und in Zeitkunst überführt. Mit den Performances der Kinematografischen Skulpturen erreichen wir zeitgleich eine unglaubliche Wahrhaftigkeit und eine Verfremdung der Figuren.

S: Eure Intervention mit der Skulptur JONATHAN, einem Kunstsammler im Rollstuhl, ist ein anschauliches Beispiel für diese Wahrhaftigkeit. Wie haben die Betrachter auf JONATHAN reagiert?

D: JONATHAN rollte mit uns als Preview-Besucher der Art Basel durch die Sicherheitskontrolle. Angesichts des einbandagierten Rollstuhlfahrers kamen gleich Kommentare von Messebesuchern wie „Oh, my god! Maybe Rugby ...". Seine Handygespräche wurden als echte Unterhaltungen mit anderen Kunstkennern aufgefasst. Auch wenn wir manchen Besuchern die virtuelle Performance ausführlich erklärten, meinten sie „But he is real?" Wir erreichten mit dieser Intervention unglaublich viel Aufmerksamkeit. Ein chinesischer Sammler machte uns ein Angebot für den Kauf der Arbeit im Doppelpack. Schliesslich hatten wir Probleme beim Verlassen der Messe, da inzwischen die unter dem Rollstuhl montierten Batterien leer waren; dem Kopf fehlte die Projektion, er war als unbelebtes Gesicht zu sehen. Die Sicherheitsbeamten verlangten einen Lieferschein für die Ausfuhr von Kunst. Zum Glück erholten sich nach wenigen Minuten die Batterien und wir konnten den wiederbelebten Invaliden problemlos durch den Haupteingang hinausrollen …

S: Diese Anekdote zeigt zum einen sehr schön, wie wir uns täuschen, auch täuschen lassen wollen und zum anderen, wie ihr eure Werke auch für Interventionen nutzt. Bei eurer bühnenhaften Performance ICH IST EIN ANDERER spürt man allerdings gleich zu Beginn eine Verfremdung, eine Art künstliche Realität. Dadurch entsteht eine Metaebene mit inhaltlichen Fragen: zunächst nach der Täuschbarkeit unserer Wahrnehmung. Diese Idee reicht ja weit in die Vergangenheit – letztlich bis zu Platons Höhlengleichnis.

Magdalena Kunz (M): Es ist auch ein Spiegel, den man vorgehalten bekommt, und man fragt sich: Nehme ich die Wirklichkeit so wahr, wie sie ist? Was ist überhaupt Wirklichkeit? Was ist meine ganz persönliche Sicht auf die Dinge, wo täusche ich mich? Einerseits sind wir uns alle sehr nahe und empfinden vieles ähnlich, andererseits erzählen wir uns alle unsere eigenen Geschichten.

D: Unsere Performances, die Kinematografischen Skulpturen, machen deutlich, wie die Wahrnehmung uns in die Irre führt, wie schnell wir uns täuschen lassen. Sich der Ungenauigkeit und Subjektivität der eigenen Wahrnehmung bewusst zu sein, bedeutet einen grossen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung. Sobald Betrachtende unsere Performances als virtuell erkannt haben, erfahren sie eine Ent-Täuschung, und die Frage „Was ist eigentlich wirklich?" beschäftigt uns. Sind wir nicht oft der Überzeugung, etwas richtig zu sehen und halten dem Kontrahenten Verwirrung und Täuschung vor?
Trotz fortlaufender wissenschaftlicher Erkenntnisse, welche die Welt immer präziser beschreiben, bleibt als einzige Konstanz das grosse Ungewisse angesichts der Weite des immensen Weltalls. Geschichten können uns helfen, die Orientierung zu behalten. Und vielleicht kann das auch die Kunst.

S: In den Schlüsselmomenten eurer Arbeiten wird offenbar, dass unsere Wahrnehmung wie ein Filter funktioniert. Wir ordnen das Gesehene sofort in Schubladen ein und überschreiben es mit unseren eigenen Vorprägungen, unseren Erinnerungen und unseren Erfahrungen.

M: Das ist ja auch das Unheimliche: Wir schauen häufig gar nicht mehr richtig hin, sondern sehen einfach, was wir gerne sehen wollen. Kinder decodieren die Welt viel genauer, sie schauen ohne Vorwissen. „Das ist eine Hexe", bemerkte angesichts unserer Figuren ein Kind. Sehr treffend: Unsere Performer sind ätherische Wesen, präsent im Raum und trotzdem seltsam entrückt.

D: Da passieren die verrücktesten Geschichten: Wir haben unser Selbstporträt AUTOPORTRAIT in einer Fussgängerpassage in Turin aufgestellt: Wir sitzen als projizierte Figuren in einem Auto und stellen uns Fragen über unser Leben und die Kunst. Eine besorgte Frau rief deshalb bei der Polizei an und meldete, da seien zwei Tote in einem Auto, die miteinander sprechen würden. Daraufhin rückten tatsächlich die Polizei und eine Terrorspezialeinheit aus.

M: Und schliesslich musste die Galerie aufgrund dieser Intervention eine Busse wegen Falschparkierens bezahlen!

S: Täuschend echt gemachte, menschliche Figuren haben – wie eure Intervention zeigt – eine unheimliche Wirkung. Und das, obwohl wir genau wissen, dass es Nachbildungen sind. Bereits im Mittelalter wurden Personen nachgebildet, um sie gleichsam als Statthalter, in effigie zu verehren oder zu verurteilen. Später entstanden Wachsfigurenkabinette und heute feilen Wissenschaft und Robotik an künstlicher Intelligenz, die in menschenähnliche Figuren eingebettet wird. Haben eure Arbeiten auch damit zu tun?

D: Die Menschen arbeiten sich seit den Höhlenmalereien am Abbild ab. Der Wille, etwas festzuhalten ist also uralt …

S: ... etwas unsterblich zu machen.

D.: Später in den griechischen Skulpturen, in der Porträtmalerei des Mittelalters ...

M.: … die auch die Vergänglichkeit und den Tod thematisieren, taucht diese Idee oft auf.

D.: Und das wurde immer raffinierter, mit immer mehr Möglichkeiten. In unserer Zeit – mit den immer raffinierter werdenden technischen Möglichkeiten, unterschiedliche Genres zu kombinieren – verändern sich auch die Formen der Kunst. Aber letztlich kreieren wir mit den Kinematografischen Skulpturen lediglich eine Performance, die jederzeit und überall wiedergegeben werden kann.

M: Die Lichtprojektion macht allerdings auch inhaltlich Sinn. Sie spielt mit der Thematik, dass wir eine Vorstellung auf etwas projizieren und Schichten übereinanderlagern.

S: Wirklich große Kunst hat ja immer mit den eigenen Mitteln gespielt, den Betrachtern die eigene Wahrnehmung vor Augen geführt, das Medium reflektiert. Bei euch verlebendigt das Licht eine Skulptur, die aus ganz traditionellen Materialien entstanden ist.

D: Das Licht aus dem Projektor haucht Leben ein, ein religiöses Sinnbild. Wie in den Landschaftsbildern alter Meister, in denen Lichtstrahlen fächerartig aus den Wolken stürzen und vom himmlischen Licht erzählen. Das Licht Gottes. Die Botschaft ist also auch: Am Anfang war das Licht.

M: Bei der Installation mit den Raben – zu sehen im untersten Keller im Kontext mit Joseph Kosuths Werk A SILENCED LIBRARY (1999) – wird das Thema des Lichts als schöpferische Quelle des Lebens besonders hervorgehoben: Die authentisch wirkenden, körperhaften Raben sind aus Lehm geformte Objekte, die mittels der filmischen Projektion echter Raben lebendig erscheinen.

S: Wenn die Raben auf- und davonfliegen, lassen sie die leere Lehmskulptur, auf die sie projiziert wurden, zurück. Gleichzeitig erweckt die Toninstallation den Eindruck, die Vögel würden uns um die Köpfe und durch die Gewölbe flattern. Da geht es viel um Sinneseindrücke, um Hören und Sehen. Sind diese Themen für euch zentral?

M: Ja, das Thema Wahrnehmung ist uns wichtig. Aus verschiedenen Untersuchungen geht hervor, dass wir tagtäglich zwar sehr viel hören und sehen – aber nicht wirklich zuhören und nicht bereit sind, tatsächlich wahrzunehmen.

S.: Bei euren Arbeiten geht es nicht um das Sein und den Schein, sondern es geht auch um eine Performance. Bei einigen Arbeiten lasst ihr Poeten zu Wort kommen wie zum Beispiel in VOICES, wo ihr mit teilweise namhaften, herausragenden Poeten aus den Townships um Kapstadt zusammengearbeitet habt. Bei anderen Arbeiten sind es Schauspieler, die eure eigenen Texte performen. Zum Beispiel in der Arbeit, die im Zentrum der Ausstellung in Ittingen steht: ICH IST EIN ANDERER.

D: Die Arbeit beruht auf dem gleichnamigen Zitat von Arthur Rimbaud. In dieser Performance geht es darum, wie schwierig es ist, zu wissen, wer man eigentlich selbst ist.

S: Es geht um Fragen der Identität. Vielleicht auch um das Hineingeworfensein in die Welt?

D: Ja. Und es geht um die Prägung durch die Aussenwelt: Wir sind geprägt von unserer Herkunft und von der Gesellschaft, in der wir leben. Mittlerweile sagen viele zeitgenössiche Psychologen, die Identität sei eine Illusion.

S: … oder eine Konstruktion? Und wir haben überdies nicht nur eine einzige Identität, sondern sogar mehrere Identitäten?

D: Wir verändern uns ständig, auch wenn uns dies vielleicht nicht immer bewusst ist. Heraklit wusste schon: Panta rhei – alles fliesst. Wie du sagst, einer Identität liegt auch eine Konstruktionsarbeit zugrunde, die im besseren Fall bewusst geschieht. Es gilt ja sein Leben zu erfinden. Dadurch wird jeder zum Künstler, frei nach Joseph Beuys.

S: In euren Arbeiten ist dieses Fliessen sichtbar gemacht. Bei ICH IST EIN ANDERER zerfliessen die Gesichtszüge der fünf Figuren von jung zu alt, von Mann zu Frau – Alter, Geschlecht und Herkunft, alles ist in Bewegung. Spiegelt sich in dieser Mutation der äusseren Erscheinung die innere Gespaltenheit?

M: Es ist unmöglich, einen Identitätsverlust auf diese Art und Weise zu erleben. Diese Durchlässigkeit des Menschen aber können wir in unseren Performances zeigen.

D: In ICH IST EIN ANDERER verwandeln sich die Figuren laufend in unterschiedliche Personen; sie kommen sich im sprichwörtlichen Sinne abhanden. Ein Schreckensbild. Zum Glück ist dies auf diese Weise nur in der Kunst möglich und nicht im echten Leben. Im Film ZELIG von Woody Allen verwandelt sich die Hauptperson, die unter einem Anpassungszwang leidet, fortwährend; symbiotisch, mental und physisch passt sie sich an die jeweilige Umgebung an. Kunst kann absurde Bilder schaffen, welche die Befindlichkeit von Individuen und der Gesellschaft veranschaulichen. Es gibt so viele Sichtweisen auf sich selbst und andere. Handle ich, wie ich tatsächlich handeln will oder mache ich, was andere von mir erwarten? Vielleicht ist es nicht nur ein zeitgenössisches Phänomen, dass viele Menschen das Gefühl haben, sich zu verlieren?

S: Man ist sich heute dessen vermutlich bewusster. Wenn sich feste Weltbilder auflösen und die Welt immer differenzierter wird, entstehen nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch Unsicherheits- und Verlustgefühle. Das Spannende bei euren Arbeiten ist, dass ihr diesem existenziellen Gefühl der Unsicherheit Ausdruck verleiht und zugleich Fragen stellt.
Ist das vielleicht sogar ein Kerngedanke eures Schaffens: die Verunsicherung? Wir werden in unserer Wahrnehmung verunsichert anhand von Figuren, die Identitätsfragen stellen.

M: Der Zweifel scheint mir ein sinnvolles Gut zu sein, er ist viel menschlicher und näher an der Wahrheit als die Rechthaberei.
Ein Gedicht, auf das ich in den unterschiedlichsten Situationen immer wieder stosse, ist das folgende von Bertolt Brecht:
Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?
Brecht stellt hier Fragen an die Vergangenheit, woher komme ich, was bin ich, was will ich und wohin will ich? Was kann ich wissen, was soll ich tun? Und zugleich drückt es diese Ungeduld aus, das Dazwischen-Sein …
Ein weiterer Ausgangspunkt für diese virtuelle Performance war der Bahnhof als Ort, wo wir die Arbeit das erste Mal inszeniert haben. Der Bahnhof interessiert uns als Durchgangsraum, wo Menschen kommen und gehen, sich begegnen, aber eigentlich vor allem aneinander vorbeigehen.

D: Wir haben die Arbeit für ein Wartehäuschen im Bahnhof Winterthur entwickelt, und sie hat für mich einen eindeutigen Bezug zu Kafka und Beckett. . Viele Pendler und Reisende sind während dieser Zeit an der virtuellen Performance vorbeigekommen. Man steigt morgens in den Zug ein und abends wieder aus und die Figuren sitzen immer noch da und unterhalten sich. Passanten haben uns unglaublich tolle Beobachtungen und Geschichten über ihre Begegnungen mit dieser Installation erzählt. Vor und im Wartehäuschen begannen sich viele, teilweise groteske Dialoge unter den neugierig Beobachtenden abzuspielen, die sich das Gesehene einfach nicht erklären konnten.

M: An dieser Stelle nochmals zu der Frage, was wir mit unserer Kunst auslösen wollen: Ein Stichwort wäre die Sensibilisierung. Das Schönste, fände ich, wäre, wenn wir alle den Augenblick, die Gegenwart und uns selbst wahrnehmen würden. Wenn ich einen Regenwurm auf einer trockenen Strasse entdecke, ihn aufhebe und ins Grüne trage – das wäre für mich so ein existenzielles Beispiel. Dass ich sensibilisiert bin für die Gegenwart und achtsam für das, was nahe liegt.

S: Achtsamkeit? Das ist zwar gerade so ein Modewort...

M: ...aber es trifft, was ich meine.

S: Es ist auch ein Begriff, der für den Ausstellungsort in Ittingen von Bedeutung ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die besondere Wirkung eurer Arbeiten in der Kartause Ittingen zu sprechen kommen. Dieser historische Hintergrund verändert auch die einzelnen Arbeiten, er öffnet den Blick für die Vergangenheit.
In besonderer Weise geschieht das bei FRANZISKA, einer Kinematografischen Skulptur, die in einer ehemaligen Mönchsklause gezeigt wird. Sie hat einen zweigeteilten Kopf mit zeitlich leicht verschoben projizierten Gesichtshälften. FRANZISKA spricht nicht, sie gibt Laute von sich, zuweilen intoniert sie Tonleitern. Ihr Körper ist fragmentarisch aus einfachen Holzteilen zusammengesetzt. Das lässt mich sofort an die Schweige- und Einsiedlermönche, die hier gelebt haben, denken. Welchen Einfluss hat dieser Ort auf eure Skulptur? Verändert er sie sogar?

M: So wie wir Menschen uns bereits durch Kleidung verändern, so erfährt auch Kunst eine Veränderung durch den Raum, in den sie zu stehen kommt. Insbesondere an diesem speziellen Ort, der so stark in der Vergangenheit verhaftet ist, wo sich Geschichten überlagern und auch frühere Ausstellungen mit einzelnen verbliebenen Arbeiten nach wie vor präsent sind. Das Selbstgespräch von FRANZISKA mit diesem lautmalerischen Singsang, in dem die eine Gesichtshälfte mit der anderen spricht, dieses Gespaltensein in der Mönchszelle, wo eigentlich die Schweigepflicht herrscht, ist überraschend, ja surreal. Es geht um den Menschen als Fragment, um Identität und um Geschichte und Geschichten.

D: FRANZISKA stellt ein Zwiegespräch dar, die Figur ist sichtlich in sich gespalten: Um Harmonie ringend, ein Puzzle.

M: Die Offenheit, die diese Figur ausmacht, ist uns wichtig. Der Körper besteht aus verschiedenen offenen Holzkisten, die Beine aus einem Holzhocker, der Bauch ist ein Briefkasten, in dem man Nachrichten hinterlassen könnte.

S: Eure Ausstellung bei uns in Ittingen ist keine klassische Ausstellung, die zusammenhängend in einzelnen Räumen stattfindet. Das Zentrum der Ausstellung befindet sich in den beiden Kellerräumen der Kartause. Auf die übrigen Arbeiten und Interventionen trifft man in der ganzen historischen Anlage unvermutet und überraschend. Was bedeutet für Euch diese unkonventionelle Herangehensweise?

M: Diese Idee kam von Markus Landert, und wir finden sie sehr reizvoll.

S: Ich möchte noch einmal auf die Arbeit RABEN zurückkommen, auf die man im ehemaligen Weinkeller trifft. Eine Arbeit, in der es um Flüchtigkeit und Vergänglichkeit geht. Die RABEN sind auf einem anderen Kunstwerk gelandet, der VERSTUMMTEN BIBLIOTHEK" von Joseph Kosuth. In dieser Arbeit geht es auch um Verlust, und zwar um den Wissensschatz der klösterlichen Bibliothek, der auseinandergerissen und in alle Winde verstreut wurde. Die Bestände sind teilweise zwar noch greifbar, die Einordnung in die noch rekonstruierbaren Wissensbereiche jedoch unklar.

D: Die Konfrontation zweier Arbeiten schafft neue Bedeutungsebenen und ist sehr wirkungsmächtig. Die Raben, welche mythologisch eine Figur des Wissens und des Todes darstellen, flattern über den Schriften des verloren gegangenen Wissensschatzes. Auch im Filmschnitt wird durch das Zusammenfügen zweier unterschiedlicher Szenen Bedeutung geschaffen. Eine Person rennt los. Schnitt. Eine andere sucht in ihrer Manteltasche verzweifelt nach ihrer Geldbörse. Oder anders: Eine Person rennt los. Schnitt. Eine Lawine donnert ins Tal. Die Perzeption des Rennenden bekommt je nach Kontext eine unterschiedliche Bedeutung.

S: Es sind die Zwischenräume, die zu sprechen beginnen. Das Wichtige passiert im Kopf des Betrachters: Umberto Eco nennt dies das offene Kunstwerk. Die Bedeutung entsteht in den Leerräumen.

D: Je nach Zusammenhang bekommen die Dinge eine andere Bedeutung. In diesem Fall stehen Kosuth und Glaser/Kunz in einem Dialog.

S: Der Rabe taucht in der Kartause Ittingen auch in der Kirche auf, im Chorgestühl, wo er zu Füssen der Mönche die Klugheit symbolisiert. Im ehemaligen Weinkeller der Kartause hingegen lassen die Raben in eurer Installation, die zwischen Materialität und Auflösung changieren, an die Auflösung des Körperlichen ins Geistige denken, an die Seele, die nach dem Tod den Körper verlässt – oder vielleicht auch nur an den Gedankenflug, der es möglich macht, die Schwere der Gegenwartspräsenz für einige Augenblicke abzustreifen.
Die Illusion zieht die Betrachter in eure Arbeiten hinein – damit spielten Künstler oft – und die wirklich guten taten das ebenfalls nicht nur, um ihr handwerkliches Können zu zeigen, sondern sie lockten damit idealerweise auf eine weitere Bedeutungsebene. Orte wie die Kartause Ittingen stehen dafür, dass man der Kunst und den Menschen Zeit und Raum gibt, diese weiteren Ebenen zu entdecken. So lassen sich die Besucher wieder auf eine echte Auseinandersetzung ein.

D: Das Kloster ist eine Insel, ein Ort des Rückzugs und der Besinnlichkeit, früher wie heute, mit und ohne Mönche. Die Kartause beherbergt heute das Kunstmuseum Thurgau, weiter werden hier Seminare und festliche Anlässe abgehalten, der Klosterladen verkauft Lebensmittel, die auf dem Gelände produziert wurden. Schliesslich ist das Kartäuserkloster ein wunderschönes Ausflugsziel, um die Ruhe und die Schönheit der Landschaft zu geniessen. Unsere Arbeiten tauchen nun hier auf und senden eine Provokation aus. Die Ausstellungsbesucher können sich anregen lassen, sich mit philosophischen, psychologischen und sozialen Themen auseinandersetzen. Kunst als Erforschung des Selbst, als Beschäftigung mit sich und der Welt, als Auslöser von Gedanken …

M: ... über die Identität, das Zweifeln, das Handeln. Was macht unsere eigene Existenz aus, wie wecken wir die Wertschätzung für das Essenzielle im Leben?

S.: Und bei euch werden diese Fragen ohne pädagogischen Impetus ausgelöst, ohne den erhobenen Zeigefinger. Vielmehr wird man auf falsche Fährten gelockt, stolpert über die eigene Täuschbarkeit und kommt über die Provokation und die Irritation zu den zentralen Themen.
Zum Abschluss die Frage an euch als Künstlerduo: Wie kann man sich eure künstlerische Zusammenarbeit vorstellen – hat jeder von euch sein Spezialgebiet oder erarbeitet ihr alles gemeinsam?

M: Die Arbeiten sind sehr komplex, von der umfangreichen Konzept- und Drehbucharbeit, dem filmischen Bereich bis zur Gestaltung der Skulpturen und der Herstellung der Köpfe – das alles entsteht im Dialog ...

D: ... und man kann sagen, dass unsere Arbeiten nicht entstanden wären, wenn wir einzeln und eben nicht zusammen arbeiten würden.

S: Das ist ein schönes Schlusswort und wir hoffen, dass durch diesen Dialog noch viele weitere Arbeiten entstehen. Vielen Dank euch beiden für das aufschlussreiche Gespräch.

Kartause Ittingen, Oktober 2016