Hoch, Stefanie
Prekäre Konstruktionen
In der Vergangenheit hatten Türme neben ihrer Wach- und Wehrfunktion meist auch symbolische Bedeutung. In der Bilderwelt des Mittelalters verwiesen sie nicht selten auf den hochmütigen Turmbau zu Babel. Mit der aufkommenden Ingenieurbaukunst werden himmelstrebende Konstruktionen wie der Eiffelturm zu Denkmälern der technischen Kompetenz einer ganzen Nation. Und noch im 21. Jahrhundert zeigen Ereignisse wie 9/11 und die Einweihung des 828 Meter hohen Burj Khalifa in Dubai, wie der Turm als kulturelles Machtsymbol verstanden wird. Bei Turmbauten schwingt dabei immer auch mit, was die gotische Bauweise auf die Spitze trieb: Sie zeugen vom Versuch, die Grenzen des Möglichen zu überschreiten, nach den Sternen zu greifen.
Der Ausgangspunkt von Tadashi Kawamatas Installation „Scheiterturm / Log Tower" ist zunächst ganz bodenständig: Den Anstoss für das Projekt gab die Brennholzproduktion der Stiftung Kartause Ittingen. Anstatt die Holzernte eines Winters wie üblich horizontal in langen Scheiterbeigen zu stapeln, schlug der japanische Künstler vor, sie zu einem zehn Meter hohen Gebilde aufzuschichten. Die vermeintlich einfache Idee erwies sich bald als komplexes Vorhaben. Der Turmbau wurde zu einem konstruktiven Experiment, wodurch der „Scheiterturm" im Gesamtwerk von Kawamata einen besonderen Stellenwert einnimmt. Kawamata führt mit der Arbeit in Ittingen zwar seine seit Jahrzehnten verfolgte künstlerische Herangehensweise fort, betritt jedoch mit diesem unberechenbaren Projekt auch technisches und ästhetisches Neuland.
Der Turm erhebt sich zwischen Parkplatz und Westtor der ehemaligen Kartause Ittingen. Gesäumt von Wirtschaftsgebäuden, Wald und Hopfengärten wirkt er fremd und bizarr inmitten der thurgauischen Kulturlandschaft — und doch mit ihr verbunden. Das Innere der knapp neun Meter hohen Konstruktion bietet ein intensives Raumerlebnis. Das Halbdunkel am Boden löst sich in schräg einfallendes Licht auf, das die geschwungenen Wände aus gestapelten Holzscheitern mit flirrenden Punkten überzieht. Ihr Spiel verleiht dem Rund eine Leichtigkeit, die die Wucht der Holzmassen vergessen macht. Ihre Flüchtigkeit scheint die begrenzte Lebensdauer des temporären Kunstwerks zu unterstreichen. Nicht mehr lange wird die Luft vom leisem Knacken der Scheiter und dem Geruch frisch geschlagenen Holzes erfüllt sein.
Ort zwischen den Zeiten
Tadashi Kawamata konzipiert seine Konstruktionen ausgehend von den Orten, für die sie entstehen. Er setzt sich im Vorfeld mit deren Geschichte und Gegenwart auseinander und wählt dann entsprechende Strategien aus. Die Kartause Ittingen ist ein aussergewöhnlicher Ort, der besondere Voraussetzungen für ein Kunstprojekt bietet. Das ehemalige Kloster ist ein lebendiges Kultur- und Seminarzentrum, das durch eine Stiftung betrieben wird. Neben zwei Museen und einem Konzertsaal beherbergt die Anlage unter anderem ein Hotel, Restaurant- und Banketträume und einen Klosterladen. Der stiftungseigene Gutsbetrieb versorgt den Ort mit Wein, Brot, Fleisch- und Milchprodukten, Fisch, Obst, Gemüse, Gewürzen und Tee aber auch mit so prosaischen Gütern wie Hackschnitzeln für die Heizungsanlage. Der Betrieb bietet auch über sechzig psychisch und geistig Beeinträchtigten Wohnraum und einen geschützten Arbeitsplatz. Diese Gratwanderung zwischen Fürsorge und Rentabilität ergab sich aus dem Ansatz, klösterliche Werte wie Selbstversorgung, Gastfreundschaft und Barmherzigkeit für die Gegenwart zu erschliessen. Eingebettet in die historischen Mauern erzeugt die Kartause Ittingen einen einzigartigen Mikrokosmos mit zuweilen eigenem Raum-Zeitkontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Tadashi Kawamata, der seit Jahrzehnten vorzugsweise mit Holz arbeitet, interessierte sich insbesondere für die historische Verbindung von Kloster und Gutsbetrieb: Für die Kartäuser war der Wald über Jahrhunderte eine wichtige Einnahmequelle. Nicht zuletzt die durch Knechte und angestellte Förster erwirtschafteten Erträge aus dem Holzverkauf finanzierten den kontemplativen Rückzug der Einsiedlermönche im Innern des Klosters. (Vgl. „Jnstruction für den Holtzforster des Gottshauses 1758", in: Jnstructionen Urbar Josephus Wech, 7’42'522, Monita Specialia. Vom Nutz und Schaden des Gottshauses. S. 31 ff.)
Auch heute noch, lange nach der Schliessung des Klosters, werden jährlich über hundertfünfzig Ster Brennholz geschlagen und in langen Scheiterbeigen getrocknet. Diese gedeckten, immer auf Zeit hin gebauten Konstruktionen bildeten den Ausgangspunkt für Kawamatas erstes Projekt für Ittingen. Gesehen hatte der Künstler diese temporären Strukturen erstmals anlässlich eines Besuchs der Kartause im Oktober 2010. Er erarbeitete daraufhin ein Projekt, bei dem mehrere Türme durch ein weiträumiges, begehbares Stegsystem rund um das Gelände der Kartause verbunden werden. Entlang der historischen und modernen Baukörper verlaufend, mit ihnen verschmelzend und wieder verschwindend, wirken die Wege beinahe organisch mit dem Ort verbunden.
Das verzweigte Gebilde bezieht sich formal und konstruktiv auf Projekte, die Kawamata in den letzten Jahrzehnten weltweit verschiedentlich realisiert hatte: Seine Stege, Brücken, Plattformen und Hütten aus Holz besetzen Häuserfassaden, Asphalt und Rasen — um sich nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Bestandteile aufzulösen. Als temporäre Eingriffe aus einfachen, oft vorgefundenen Materialien verändern sie die Wahrnehmung und Erfahrung von Stadträumen oder Landschaften und befragen Grenzziehungen in ihnen. So auch das erste Konzept für das Kunstmuseum Thurgau. Der Rundgang um die Anlage sollte neue Perspektiven auf den Gebäudekomplex öffnen und den gesamten Ort neu erleben lassen. Der weit dimensionierte Plan überstieg jedoch die Ressourcen des Museums und war mit den komplexen Abläufen auf dem bereits intensiv genutzten Gelände der Kartause nicht vereinbar. Kawamata verdichtete in der Folge diese erste Idee und entschied zusammen mit der Museumsleitung, in einem ersten Schritt wenigstens einen der Türme dieser visionären Gesamtanlage zu realisieren. Der aktuelle „Scheiterturm" stellt so ein sichtbar gewordenes, materialisiertes Relikt einer umfassenderen Vision dar, von der allenfalls noch andere Teile Realität werden können.
Schichten und Scheitern
Kawamatas bisherige Turmbauten in Niigata („Matsunoyama Project", 2000), Lavau-sur-Loire („L’Observatoire", 2007–2009), Essen („Walkway and Tower", 2010), Tokyo („Shioiri Tower", 2011), Cergy-Pontoise ("Cergy Pontoise Art commission work",2011), Tokyo („Tokyo in Progress", 2012), Lyon („La Tour belvédère", 2013) und Paris („Collective Folie", Parc de la Vilette, 2013) bestanden, wie beinahe alle seine Holzkonstruktionen, aus zugesägten Brettern und Balken, die verschraubt bzw. genagelt sind. 1997 in Paris („Le Passage de chaises", Chapelle Saint-Louis de la Salpétrière) und 2007 in Reims („Cathédrale de chaises", Domaine Pommery) waren es Stühle, die er zu Türmen stapelte. In Ittingen sollte nur gespaltenes Holz aus dem nahen Wald verwendet und mit möglichst wenig technischen Hilfsmitteln aufeinander geschichtet werden. Der Anspruch bestand darin, die schätzungsweise 12'000 Scheiter so hoch wie möglich zu stapeln.
Ausgearbeitet hat Tadashi Kawamata das Projekt mit dem Basler Architekten Christophe Scheidegger, mit dem er in den letzten 15 Jahren zahlreiche Werke in der Schweiz realisiert hat. Diese langjährige Verbundenheit mit dem Architekten ermöglichte die Präzisierung seines Vorschlags hinsichtlich konzeptueller und technischer Aspekte und stellte die gute Organisation des Teams sicher. Christophe Scheidegger übernahm mit dem Ingenieur Markus Zimmermann aus Rafz die Detailplanung und die Bauleitung der Konstruktion in Ittingen.
Da der „Scheiterturm" auf öffentlich zugänglichen Grund zu stehen kam, musste die Standfestigkeit über die gesamte „Lebensdauer" des Turms garantiert werden. Die ursprüngliche Tonnenform wurde hin zu einem konisch zulaufenden Zylinder verändert. Ein Schraubfundament und Eisenringe stabilisieren die Konstruktion.
Rund einhundert Tonnen Holz von Hand aufeinander zu stapeln, erforderte grossen körperlichen Einsatz. Hochmotiviert bauten 14 Studierende von der École nationale supérieure des Beaux-Arts de Paris, an der Kawamata unterrichtet, während zweier Wochen im März 2013 Hand in Hand mit Mitarbeiterinnen des Heim- und Werkbetriebs der Stiftung Kartause Ittingen „die grösste Scheiterbeige der Welt" (Titel einer berichterstattenden Radiosendung des SRF vom 21. März 2013, siehe URL: http://www.srf.ch/kultur/kunst/die-groesste-scheiterbeige-der-welt, Stand 04.11.13)
Um die Arbeitssicherheit zu gewährleisten und die Scheiter auf Arbeitshöhe zu bringen, „wuchs" ein rundes, innenliegendes Gerüst mit Seilwinde gemeinsam mit dem Turm in die Höhe. Dafür wurde ein benachbartes Unternehmen beauftragt. Gestapelt wurde von Hand und nach Anleitung des Revierförsters, um die bestmögliche Verdichtung der Scheiter zu erreichen. So war die Arbeit am „Scheiterturm" eine beinahe meditative Auseinandersetzung mit einer der elementarsten, urtümlichsten Bauformen. Aus dieser Perspektive erinnert die Konstruktion des lichtdurchfluteten Höhenexperiments vor den Toren der Kartause an die Bauhütten zur Errichtung gotischer Kathedralen.
Mit wachsender Höhe stellte sich die immer drängendere Frage, ob die Konstruktion nach Entfernung des Innengerüsts stabil bleiben würde. Trotz aller Versuche an Modellen und trotz aller Berechnungen blieb es letztlich Ermessenssache, wie hoch gebaut werden sollte. Erregte Diskussionen zwischen Ingenieuren, externen Fachleuten, Museumsverantwortlichen, dem Künstler und seinen Beauftragten drehten sich um die Frage, ab welcher Höhe die Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Selbst wenn die Verständigung zwischen den verschiedenen Personen und Nationen zuweilen eher an den Turmbau zu Babel erinnerte, waren doch solche Kommunikationsprozesse das konstituierende Element des Kunstobjekts „Scheiterturm". Im Mittelpunkt stand nicht das Erreichen der 10-Meter-Marke, die geschaffene Skulptur oder gar ihr pragmatischer Nutzen als „Trocknungsmaschine", sondern die experimentelle Zusammenarbeit, die Entwicklungsprozesse und sich verändernden Abläufe auf dem Gelände.
Prozess statt Monument
Bei Kawamatas Projekten verbinden sich Ortsbezug und Partizipation mit dem Gedanken des Prozesshaften. Nicht nur veränderten sich Gestalt und Konstruktionsweise des „Scheiterturms" während der Konzeptions- und Bauphasen immer wieder. Seit Eröffnung im März 2013 ist die Konstruktion von einem steten Transformationsprozess erfasst: Während der zweijährigen Trocknungszeit verlieren die Scheiter zehn bis zwanzig Prozent an Masse. Was bei der üblichen Scheiterbeige von zwei Metern Höhe allenfalls zu einer leichten Neigung führt, potenziert sich beim Turm von knapp neun Metern Höhe zu Formveränderungen, die schon beim Bau berücksichtigt werden mussten. Was passiert, wenn der Turm im Lauf der Zeit etwa einen Meter an Höhe verliert? Erschwert wurden die Prognosen durch die Tatsache, dass dieser Prozess auf der Südseite stärker und schneller vonstattengehen wird als auf der Nordseite — und keinerlei Erfahrungswerte vorlagen.
Der wuchtige Koloss ist dynamischer und fragiler, als auf den ersten Blick zu vermutet. Der Künstler sucht dieses Element des Labilen und Prekären bewusst: Ursprünglich sollte der Turm sogar über einem Bach gebaut werden. Aber selbst beim Standort auf der Wiese war und ist das Scheitern mehr als ein Wortspiel. Und nicht nur konstruktiv, auch aus ästhetischer Sicht kann Kawamatas Projekt für Ittingen fragil erscheinen, vergegenwärtigt man sich die schlichte Turmform und die fast kindliche Geste des In-die-Höhe-Stapelns. Willentlich konfrontiert der Künstler mit seiner fortlaufend im Wandel begriffenen Konstruktion aus „lebendigem Material" alle Beteiligten mit einem statisch wie ästhetisch unberechenbarem Experiment – das schliesslich auch „nur" die Höhe von neun Metern erreichte.
Selbst die Lebensdauer der Installation ist ungewiss, da von äusseren, natürlichen Faktoren abhängig: Werden die kommenden Winter hart und viel Heizmaterial benötigt, soll sie bereits nach zwei Jahren dekonstruiert werden, bei milder Witterung (und sicherer Statik) könnte sie auch ein drittes Jahr erleben. Sicher ist nur, dass das Material nach der Dekonstruktion von der Stiftung als Brennholz verkauft und schliesslich zwischen Zürich und dem Bodensee versprengt an den unterschiedlichsten Orten für Licht und Wärme sorgen wird.
Der „Scheiterturm" ist folglich nicht als klassisches Monument mit Ewigkeitsanspruch konzipiert, sondern Teil von Handlungs- und Lebensräumen, was einen Anspruch auf museales Überdauern ausschliesst. Insofern ist die Einladung des Kunstmuseums Thurgau auch als selbstkritische Reflexion der Sammlungsinstitution Museum zu verstehen. Aktuelle wie zeitlose Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Kunst, danach, was Skulptur heute bedeutet, kristallisieren sich in Form des Turms vor einem Museum in einem ehemaligen Kloster, dessen Ursprünge auf eine Burg zurückgehen. Kawamatas Arbeiten sind fast ausnahmslos temporär, doch der Ittinger „Scheiterturm" verweist besonders eindrücklich auf den immerwährenden Prozess von Werden und Vergehen.
Der gesellschaftliche Kontext
Der „Scheiterturm" ist so nicht nur Fragment des ursprünglichen Entwurfs für Ittingen, sondern auch Puzzlestück einer umfassenden künstlerischen Auseinandersetzung mit der Frage nach Gestaltung von Lebensräumen, mit Werden und Vergehen in Raum und Zeit. Im Gesamtwerk Kawamatas schwingt der Gedanke des Labilen und Flüchtigen mit. Bereits als Student der Kunstuniversität Tokyo fertigte Kawamata unter Brücken fragile Unterstände aus gefundenem Material an, um sie ohne Titel oder Vermittlung der Grossstadt zu überlassen. Diese Konstruktionen verwiesen ebenso auf Obdachlosigkeit und Prekariat wie auf kindliche Geheimnis- und Geborgenheitsvorstellungen. Bald schon konnte Kawamata solche Arbeiten auch in internationalen Ausstellungskontexten wie der Biennale Venedig („Takara House Room 205", 1982), vor der National Gallery of Canada („Favela in Ottawa", National Gallery of Canada, Ottawa, 1991) oder bei der Kasseler documenta („Destroyed Church", 1987, „People’s Garden", 1992) zeigen. Wichtig aber bleiben die Bezüge zum jeweiligen öffentlichen Umraum. So auch bei den nestartigen Baumhäusern in unzugänglichen Höhen über urbanen Erholungsräumen in New York, Berlin oder Paris. Diese Konstruktionen wirken wie Visionen einer alternativen Lebensform, nicht funktionale sondern fiktionale Gebilde. Indem sie sich der alltäglichen Rationalität verweigern, verändern die utopischen Ideen Orte inmitten durchgestalteter Zivilisationsräume. Sind es letztlich Metaphern für die Unbehaustheit des Menschen in der Welt?
Eines der ersten Schweizer Projekte, „Frauenbad" (Helmhaus Zürich, 1993), markierte das Volumen der gegenüberliegenden Badeanlage in originaler Grösse auf dem Fluss inmitten von Zürich. Doch der schwimmende Baukörper war nicht betretbar und somit eher eine Art utopische Spiegelung oder Paraphrase der historischen Architektur. Die Stege und Brücken in Zug („Work in Progress", 1996–) und Uster („Drift Structure", 2010) wachsen und wuchern halb nützlich, halb spielerisch durch den Stadtraum. Wie alle Arbeiten Kawamatas nehmen sie abhängig von den Gegebenheiten einer Situation unterschiedliche Gestalt an und antworten auf (Stadt-)Landschaften und deren Geschichte. Oft entstehen sie als Gemeinschaftsarbeiten mit Personen vor Ort. Die Plattform in Zuoz („Felsenbad", 1997, 2005) und Basel („Wooden Terrace Beach", 2004) funktionieren als Bühnen zwischen funktionalem Zweck und künstlerischem Selbstzweck.
Die Wirkung der Arbeiten von Kawamata wird wesentlich mitbestimmt durch den jeweiligen Kontext. Dies zeigte sich besonders an einer Hüttensiedlung auf dem Vorplatz der Kunstmesse Art Basel 2013. Kawamata hatte seit 1991 ähnliche Hüttenkonstruktionen und auch den Begriff der „Favela" verschiedentlich genutzt. Auf dem Vorplatz der Kunstmesse wurde sein primär als ästhetische Setzung verstandener Eingriff aber plötzlich zum Politikum und zum Kristallisationspunkt lokaler gesellschaftlicher Probleme. An der temporären Siedlung brachen Fragen der Gestaltung und Nutzung urbaner Räume auf, auch wenn die Setzung vom Künstler weder dezidiert sozialkritisch noch moralisierend verstanden worden war. Die improvisiert wirkenden Objekte stellen dem scheinbar Unverrückbaren und Betonierten des Messeplatzes etwas organisch Wirkendes, Provisorisches zur Seite — was Irritationen auslöste und gleichzeitig missverstanden wurde. Dies zeigt, wie Kawamatas prekäre Konstruktionen auch Räume für experimentelles Denken öffnen. Als Fremdkörper in eigentlich „fertig gestalteten" Räumen, erzeugen sie Kraftfelder des Phantastischen.
Zweck und Sinn
Bei der Form des „Scheiterturms" stehen zunächst experimentelle Bauweise und pragmatischer Nutzen im Vordergrund. Das verwendete Material und die Dauer der Konstruktion werden bestimmt durch die Gegebenheiten vor Ort und die Kreisläufe der Natur. Gleichzeitig lässt sich der absurd hohe Aufwand für Turmform und Höhe nur durch den Kunstzweck legitimieren (und finanzieren). Nur als Kunstwerk kann dieses in seiner Masslosigkeit letztlich irrwitzige Gebilde entstehen. Deshalb wirkt der Turm inmitten der von Vernunft geprägten Nutzlandschaft zugleich archaisch-vertraut, rätselhaft fremd und bizarr. Auch der „Scheiterturm" bricht mit seinem wohlgeordneten Umfeld, entfaltet jedoch nicht jene gesellschaftliche Sprengkraft wie es die „Favelas" tun.
Was die Konstruktionen Kawamatas eint, ist ihr Spiel mit Vorstellungen von Funktionalität und deren Auflösung. Zwar sind seine Konstruktionen teilweise benutzbar, doch folgen sie letztlich keinem konkreten Zweck als vielmehr einer formalen künstlerischen Idee. Die konzeptuell-künstlerischen Eigenschaften — Ortsbezug, Partizipation und die Entstehungs-, Alterungs- und Dekonstruktionsprozesse — erfahren in der Realisierung eine symbolhafte Überhöhung. Vielleicht braucht es diese für die Gegenwartskunst so charakteristischen Strategien aber auch, um etwas anderes wieder zu ermöglichen: Technische Kunstfertigkeit, Schönheit und Überwältigung. Was um seiner selbst willen in der Kunst des 21. Jahrhunderts nicht mehr erlaubt ist, findet auf diese Weise eine Bühne.
Manchmal bezeichnet Kawamata den „Scheiterturm" aber auch einfach als „chimney", als „Kamin": Eine prekäre Konstruktion, in der Geschichten, Arbeit und Prozesse verdichtet sind, um sich nach einer gewissen Zeit selbst zu verzehren. Ihr Verschwinden wird jedoch kein Scheitern sein, sondern ein erneutes Transzendieren in andere Aggregatzustände, diesmal in Licht und Wärme.