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Hoch, Stefanie

„Siehe, der Mensch“ – Über Macht und Ohnmacht im Zeitalter digitaler Bilder

Tsang Kin-Wah, „Ecce Homo Trilogy II“, 2015, Installationsansicht Kunstmuseum Thurgau

„WEAPONSOFMASSDISTORTIONWEAPONSOFMASSINTERPRETATIONWEAPONSOFMASSSIMPLIFICATION“ („MASSENVERFÄLSCHUNGSWAFFENMASSENINTERPRETATIONSWAFFEN-MASSENVEREINFACHUNGSWAFFEN“)

Wortungetüme wie dieses empfangen die Besucher von Tsang Kin-Wahs Ecce Homo Trilogy II. In Form ornamental geschwungener Schriftbänder umspielen sie in weichen Linien den Raum und ziehen die Betrachter in die Tiefe. Nähert man sich den rankenden Wellen und entziffert ihren Sinn, so kippt ihr schöner Schein: Die Buchstabenbögen formieren sich zu Aussagen wie „THE HELL THE PEOPLE THE NATION THE ENEMY AND THE PRICE$“ („DIE HÖLLE DIE MENSCHEN DIE NATION DER FEIND UND DIE PREI$E“. Die Zitate in Grossschrift sowie die Zwischenüberschriften in diesem Text stammen aus Tsang Kin-Wahs Schriftbildern. Zur leichteren Lesbarkeit sind die vom Künstler weggelassenen Wortzwischenräume jeweils eingefügt.)
Die Schriftbilder verweisen auf Gewalt, Schuld und Verurteilung. Immer wieder wird das Verhältnis zwischen dem Einzelnen, der Gesellschaft und den Massenmedien abgewogen.
Die Aneinanderreihung der Wörter ohne Leerzeichen lässt die Vorstellung von kultisch rezitierten Texten aufkommen, von Riten, Zaubersprüchen oder dem Singsang von Mantras. Prophezeiungen wie „IT WILL BE GOING ON AND ON AND ON“ („SO WIRD ES IMMER UND IMMER UND IMMER WEITER GEHEN“). verbreiten eine endzeitliche Atmosphäre, fatalistisch, kryptisch, apokalyptisch.
Die Laufschriften enthalten archaisch tönende Aufforderungen zu Rache und Vergeltung, Schlüsselwörter aus der Bibel, verrätselte, wie Verschwörungen anmutende Behauptungen sind verwoben mit Stimmen aus dem neuzeitlichen Wertekanon. Sie erinnern an Arbeiten von Konzeptkünstlern wie Joseph Kosuth oder Jenny Holzer, deren Leuchtschriften eine ähnliche Dogmatik und Dramatik ausstrahlen. Tsang Kin-Wahs Schriften sind jenen von Jenny Holzer insofern verwandt, als dass sie sich ebenfalls der einfachen Lesbarkeit und einer schnellen Sinnstiftung verweigern. Der chinesische Künstler verschränkt die lateinischen Lettern um- und ineinander zu Mustern, wodurch die einzelnen Buchstaben gekrümmt werden. Ihr Lauf scheint grossen Metallplatten zu entspringen, die Türen ähneln, aber zugleich den Raum hermetisch verschlossen erscheinen lassen. Von diesen Chromstahlelementen ausgehend, breiten sich die Schriften über Wände und Boden aus. Die spiegelnden Oberflächen integrieren die verzerrten Konturen der Besucher in die doppelbödigen Text-Bild-Verschränkungen, welche in ein beklemmend wirkendes Gängesystem führen. Nur die Fenster unter der Decke lassen Tageslicht ins Innere dringen. Doch auch dieser Eindruck entpuppt sich als Täuschung, handelt es sich doch um Projektionen, die eine Aussenwelt lediglich simulieren. Die unerbittlichen Botschaften des Schriftgeflechts führen in die Tiefe der Räume, aus denen dumpfe Geräusche dringen. In den Kellerräumen der ehemaligen Kartause Ittingen hat Tsang Kin-Wah ein labyrinthisches Raumsystem angelegt, in dem in drei Kapiteln der Fall des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein verfolgt wird.

„THEY CALL ON YOU TO FOLLOW THEY CALL ON YOU TO HATE THEY CALL ON YOU TO KILL“ („SIE FORDERN EUCH AUF ZU FOLGEN SIE FORDERN EUCH AUF ZU HASSEN SIE FORDERN EUCH AUF ZU TÖTEN“)

Die erste der drei Projektionen zeigt Aufnahmen des Prozesses, den der irakische Staat gegen Saddam Hussein führte. Tsang Kin-Wah hat über zwei Jahre recherchiert und sich Videomaterial aus dem Internet angeeignet. Dieses verfremdet er stark, indem er alle Farben eliminiert, die Geschwindigkeit verlangsamt und den Grad der Unschärfe extrem erhöht. Auf diese Weise wird das aus verschiedenen Quellen stammende Ausgangsmaterial zu Videofilmen von jeweils sechs Minuten Dauer homogenisiert. Die aus „found footage“ und selbst komponierten Klängen und Geräuschen gemischte Tonspur changiert von undefinierbarem Rauschen zu einzelnen Tönen und zurück.
Nachdem sich die Augen an den wie verschoben wirkenden Fokus gewöhnt haben, sind schliesslich der Angeklagte, Richter und Anwälte auszumachen. Doch alles scheint ständig in verschwommene Grauwerte zu entgleiten. Hohle Augen blicken umher, Münder bewegen sich in Zeitlupe, während lediglich hohe, langgezogene Klänge zu hören sind. Schliesslich verkündet ein maskenhafter Kopf das Urteil. Die Gesichtszüge des Richters verwandeln sich in jene des Angeklagten. Saddam Hussein schliesst die Augen, öffnet sie wieder. Seine Gesichtszüge entgleisen.
Die zweite Videoprojektion wird über eine Treppe auf eine Galerie erreicht. Amorphe Lichtflecke verbinden sich zur Gestalt Saddam Husseins. Zwei schwarz maskierte Schergen führen den zum Tod Verurteilten auf eine Konstruktion, die den Begriff „Schafott“ (Dieser stammt vom altfranzösischen „(e)schaffaut“, Schaugerüst.) in Erinnerung ruft. Das Kameraauge fährt langsam über den Strick. Dem Ablauf wurde ein Spannungsbogen verliehen, doch wirken die Aufnahmen kaum noch sensationsheischend. Vielmehr scheint die Reduktion auf Schwarz-Weiss die Aufzeichnungen der Wirklichkeit zu entrücken. Die sich schemenhaft abspielende Szene wirkt geisterhaft, was vom Ton noch unterstrichen wird. Doch was dem Auge an Grausamkeit vorenthalten wird, malt sich die Vorstellungskraft umso drastischer aus. Gleissende Helligkeit füllt den Raum, dann wird die Schlinge um den Hals des Mannes gelegt. In den Momenten vor der Exekution schwillt der Ton zu verzerrten, beinahe tierisch klingenden Lauten an. Bearbeitete digitale Tonspuren unterschiedlicher Herkunft suggerieren eine grauenerregende Szene. Dann verschwindet der Körper nach unten aus dem Bild. Die gegenständliche Welt driftet zurück in abstrakte Formen.
Die dritte Videoprojektion zeigt das Begräbnis des Diktators. Aus mäandernden Lichtflecken materialisiert sich nach und nach das Gesicht des aufgebahrten Toten. Auf der Ladefläche eines offenen Fahrzeugs steht Saddam Husseins Sarg. Menschen sind zu sehen, die zur demonstrierenden Menge werden. Der Tod wird beklagt und gefeiert bis sich alles wieder in Licht und Dunkel auflöst.

„THEY BEAR WITNESS THAT THERE IS NO TRUTH AND THERE IS NO JUSTICE AT ALL“ („SIE BEZEUGEN DASS ES GANZ UND GAR KEINE WAHRHEIT GIBT UND KEINE GERECHTIGKEIT“.)

Was sind (die) Fakten: Sadam Hussein wurde nach US-amerikanischer Darstellung am 13. Dezember 2003 in einem gemauerten Erdloch nahe Tikrit festgenommen. (http://de.wikipedia.org/wiki/Saddam_Hussein, zuletzt aufgerufen am 24.01.2019.)
Im Juni 2004, nach der offiziellen Machtübergabe der USA an die irakische Übergangsregierung, lieferten die Vereinigten Staaten Saddam Hussein der irakischen Justiz aus. Saddam wurde vor einem Sondertribunal in Bagdad unter anderem des Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Menschenrechtsorganisationen zweifelten an der rechtmässigen Einsetzung des Tribunals. Human Rights Watch betonte zudem, die Rechte Saddams und der Mitangeklagten würden beschnitten. Die Vorgehensweise wurde als Siegerjustiz und Schauprozess kritisiert. Zwei Verteidiger von Saddams Mitangeklagten fielen Mordanschlägen zum Opfer. Am 5. November 2006 verurteilte das Gericht den Angeklagten zum Tod durch den Strang.
Am 30. Dezember 2006 wurde das Urteil vollstreckt. Das Staatsfernsehen „Al Iraqia“ strahlte Teile der Hinrichtung aus. Nach offizieller Darstellung sei alles schnell und ruhig verlaufen. Eine im Internet kursierende Filmaufnahme widerlegt dies. Dort ist zu hören, wie Saddam Hussein, ein Sunnite, beschimpft und ein radikaler Schiitenführer und Gegner von Saddam bejubelt wurden. Die Hinrichtung löste Bestürzung aus, teilweise jedoch auch Beifall und Genugtuung. Kritisiert wurde der gewählte Zeitpunkt insbesondere, weil er mit einem der höchsten islamischen Feiertage, dem Opferfest, zusammenfiel. Das Begräbnis fand in Saddam Husseins Geburtsort Al-Audscha statt.

„THE USE OF THE PEOPLE AND THE USE OF THE MAJORITY“ („DAS BENUTZEN DES VOLKES UND DAS BENUTZEN DER MEHRHEIT“)

Tsang Kin-Wahs Ecce Homo Trilogy II konfrontiert die Betrachter in drei grossen Videoprojektionen mit dem Prozess gegen Saddam Hussein, seiner Hinrichtung und der Beisetzung des ehemaligen Diktators.
Derzeit ist der dritte Teil der Trilogie im Entstehen. Auch die Ecce Homo Trilogy I war der Verurteilung und Hinrichtung des ehemaligen rumänischen Staatsoberhaupts Nicolae Ceaușescu gewidmet. Auch hier wird ein Diktator von einem Gericht – in diesem Fall ist es ein Militärgericht – zum Tod verurteilt. In dieser 2011/2012 entstandenen Rauminstallation verwendete der Künstler in vergleichbarer Weise bestehende Videos aus dem Internet. Das dokumentarische Rohmaterial unterzieht der Künstler dabei jeweils einem Gestaltungsprozess, der den Aufnahmen eine Dichte und Dramatik verleiht, deren beklemmender Wirkung sich die Betrachter angesicht der Grossprojektionen kaum entziehen können. So macht Tsang Kin-Wah die Besucher einerseits zu ergriffenen Augenzeugen, andererseits verunklärt er den Blick in die Vergangenheit durch Unschärfe, Ausschnitthaftigkeit und weiteren Verfremdungen. Dadurch relativiert er die dokumentarischen Eigenschaften des Ausgangsmaterials. Seine Inszenierungen erzeugen Emotionalität und verweisen sowohl auf die Unmöglichkeit einer neutralen Bewertung der Vorgänge wie auch auf den wechselseitigen Einfluss von Realität und Fiktion in unserer Wahrnehmung. Damit unternimmt er eine zeitgenössische Auslegeordnung um Begriffe wie Schuld, Menschlichkeit und Wahrheit.
Bereits in früheren Arbeiten hat sich Tsang Kin-Wah mit solchen Begriffsfeldern und Vorstellungen auseinandergesetzt. Der 1976 im chinesischen Shantou geborene Künstler wuchs in einem taoistisch und buddhistisch geprägten Elternhaus auf. Nach dem Umzug seiner Familie nach Hongkong entschied er sich zum Besuch einer christlichen Schule und bekannte sich in einem quasi jugendlich-rebellischen Akt zum Christentum. Doch schon bald war er enttäuscht von der Kluft zwischen den christlichen Prinzipien und den Christen, die er kennenlernte. Mit zwölf Jahren verfolgte er die Fernsehausstrahlung der Hinrichtung Ceaușescus, die ihn zutiefst erschütterte:
“I saw the video on TV when I was twelve. It delivered a shock which led me to start to think about death, prosecution and violence. It was one of the first things I remember clearly. 1989 was a significant year, the Tiananmen massacre, the fall of the Berlin Wall, Ceausescu’s prosecution, it is a significant year in my memory.” („Ich war zwölf, als das Video am Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Schock hat mich veranlasst, über Tod, Verfolgung und Gewalt nachzudenken. Es ist eine meiner frühesten klaren Erinnerungen. 1989 war ein bedeutsames Jahr: das Tian'anmen-Massaker, der Fall der Berliner Mauer, die Verfolgung von Ceaușescu. In meiner Erinnerung ist dies ein bedeutsames Jahr.” Übersetzung: Margret Powell-Joss)
Während seiner Studienzeit in Hongkong und London wandte sich Tsang Kin-Wah vom Christentum ab und stellte jegliche religiösen Dogmen infrage. Der religionskritische Philosoph Friedrich Nietzsche wurde zum Ausgangspunkt seiner pessimistischen Weltanschauung, gibt es doch laut Nietzsche „keine Fakten, nur Interpretationen“. Der Titel von Nietzsches Autobiografie „Ecce Homo. Wie man wird, was man ist“ (1888–89) stellt einen weiteren Bezugspunkt dar. Mittlerweile hat der Künstler seine radikal nihilistische Position verlassen und verfolgt eine relativistische Weltanschauung: Da wir gefangen seien in einer zyklischen Schleife zwischen unseren Interpretationen der Wirklichkeit und dem, was wir für die Realität halten, existiere kein objektiv richtiges, neutrales Werturteil.
Diese Haltung, welche die Objektivität jeglicher Urteilsfindung zur Diskussion stellt, scheint verwandt mit postmodernen Theorien, die eine objektive Erklärung und Beurteilung der Wirklichkeit für unmöglich halten. Laut den sich seit den 1960er-Jahren verbreitenden philosophischen Strömungen des Dekonstruktivismus und des Poststrukturalismus werden die sinnstiftenden „grossen Erzählungen“ der Wissenschaften und der Religionen abgelöst von Wissensmodellen, die immer nur fragmentarisch und vorläufig sein können. (Vgl. Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2001, S. 102f., 523f.) Die Wahrnehmung der Wirklichkeit sei stets nur eine Konstruktion. Folglich gebe es keine objektive Wahrheit.
Vielleicht ist Tsang Kin-Wahs Ecce Homo Trilogy vor seinem biografischen Hintergrund, jener „nomadischen“ Suche zwischen den Religionen, auch als Ergebnis einer grossen Ernüchterung zu verstehen: Trotz all der theoretischen, intellektuellen Leistungen der Postmoderne gehört zu den Handlungen, die westliche Mächte nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Rumänien bzw. nach der „Befreiung“ des Irak unterstützen, die Hinrichtung von Menschen. (Zwar wurden die Todesurteile von einem rumänischen Militärgericht und der irakischen Übergangsregierung gefällt, doch standen beide Institutionen wesentlich unter dem Einfluss westlicher Mächte.) Präsident George W. Bush nannte die Hinrichtung Saddam Husseins einen „wichtigen Meilenstein“ auf dem Weg des Golfstaats zu einer tragfähigen Demokratie. Wenn sich im Umgang mit Besiegten der wahre Charakter und die Grösse des Siegers zeigt, so erscheinen die vielbeschworenen Werte des christlichen Abendlands als leere Worthülsen und traurige Heuchelei im Sinne von „IT WILL BE GOING ON AND ON AND ON“.
Ganz bewusst wurden Hussein und Ceaușescu als Protagonisten gewählt, um die Unfehlbarkeit von Werturteilen zur Diskussion zu stellen. Zwar sind beide eindeutig schuldige Diktatoren und Massenmörder, doch Tsang Kin-Wah erzeugt Mitleid ausgerechnet für sie und verdeutlicht damit, dass – ungeachtet des Ausmasses der Schuld – Menschen nicht das Recht haben, andere Menschen zu töten. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit hat eine besondere Brisanz, wenn sie von einem Künstler formuliert wird, in dessen Heimatland Todesstrafen ohne rechtliche Grundlage an der Tagesordnung sind. Doch geht es Tsang Kin-Wah nicht darum, Länder oder Wertesysteme gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr darum, auf die grundsätzliche Fehlbarkeit aller Religionen, Gesellschaftsformen und Moralvorstellungen zu verweisen.
So spielt der Titel „Ecce Homo“ mit einem durchaus auch provokativen Vergleich: Er stellt Jesus neben Ceaușescu und Saddam Hussein. „Ecce Homo“ – mit diesen Worten präsentierte Pontius Pilatus den gegeisselten Jesus vor der Kreuzigung der Öffentlichkeit. Die wörtliche Übersetzung aus dem griechischen Urtext des Johannesevangeliums lautet „Siehe, der Mensch“. Luther übersetzte den Ausspruch mit «Sehet, welch ein Mensch». In der Einheitsübersetzung der Bibel heisst es „Seht, da ist der Mensch“. In diesen Bedeutungsverschiebungen sind bereits Wertungen enthalten.
Verwies Pontius Pilatus auf die Unschuld von Jesus? Auf Jesus’ Aussage: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“, antwortete Pilatus mit der bezeichnenden Frage: „Was ist Wahrheit?“ (Joh, 18,38). Dann trat der römische Statthalter wieder vor die Menge und sagte: „Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.“ Doch die Menge instistierte, und Pilatus wollte sie zufriedenstellen, also verurteilte er Jesus indirekt zum Tode und wäscht sich die Hände in Unschuld.
Die Bibelstelle wirft die existenzielle Frage auf, was denn das Menschsein ausmacht, was Menschlichkeit, Glaube, Überzeugung, Opportunismus oder Hybris bedeuten. In der Rolle des Pilatus appeliert Tsang Kin-Wah an unsere Menschlichkeit. Mit seinem Vergleich zwischen den Ex-Diktatoren und Jesus legt er nahe, dass in allen Fällen die Todesurteile unter anderem gesprochen wurden, um sich dem Volk anzudienen. Zugleich transferiert er die Thematik in die Gegenwart digitaler Bilder.

„HE IS SCARED OF THEIR MEDIA & SCARED OF THEIR INTERPRETATIONS“ („ER FÜRCHTET IHRE MEDIEN & IHRE INTERPRETATIONEN”)

Im Spannungsfeld zwischen der biblischen Heilsgeschichte und den aktuellen politischen Ereignissen verweist der Titel „Ecce Homo“ auf den Vergleich der spektakelgierigen Menschenmenge vor dem Statthalter Pilatus mit der globalen Internetgemeinde. Bilder haben Macht. Mit Bildern wurde und wird Politik gemacht. Die gefilmten Hinrichtungen der Diktatoren erscheinen als archaische Triumphgesten, welche durch die globale digitale Vernetzung neue, verzweigtere Kanäle gefunden haben. Tsang Kin-Wah befragt die Bedeutung dieser Bilder und die Deutungshoheit über sie. Welche Bedürfnisse wurden mit der öffentlichen Zurschaustellung der Exekutionen bedient? Ging es auch um die Ablenkung von anderen Aspekten – wie der Ölförderung im Irak und weiteren Wirtschaftsinteressen?
Tsang Kin-Wah kehrt in seiner Ecce Homo Trilogy die ursprüngliche Intention der Bilder in ihr Gegenteil: Wir empfinden Mitleid mit Massenmördern, Scham über versagende Rechtssysteme und Abscheu angesichts des eigenen Voyeurismus'. Wir beginnen zu zweifeln. Wie soll eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung auf Basis von Todesurteilen und gebeugtem Recht entstehen?
Acht Jahre nach der Hinrichtung von Saddam Hussein erscheint Tsang Kin-Wahs 2011 begonnene Trilogie von trauriger Aktualität: Heute bedienen digital verbreitete Hinrichtungsvideos von Terrororganisationen radikale politische Interessen und zugleich niedrigste menschliche Instinkte. Die Distribution von Bildern der Ermordung unschuldiger Geiseln über das Internet wird als Instrument der Machtdemonstration, zur Einschüchterung und erschreckenderweise, gerade auch im europäischen Raum, zu Rekrutierungszwecken genutzt.
Die Schriftstellerin, Publizistin und Regisseurin Susan Sontag (1933–2004) hat untersucht, wie wir der Faszination von Bildern erliegen. (Susan Sontag, On Photography, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1977; Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, New York: Farrar, Straus and Giroux, 2003) Insbesondere Kriegsbilder funktionieren immer auch als eine Art Rhetorik, wie sie in ihrem Buch “Das Leiden anderer betrachten“ darlegt. (Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2005, S. 8 ff., 30, 52.) Kriegsfotografien wollen starke Gefühle hervorrufen: Empörung, Mitleid, aber auch Rachegefühle, Gegengewalt. Die Inszenierung folgt dabei einer Tradition, die vom Todeskampf der Marmorskulptur des Laokoon über mittelalterliche Heiligenbilder bis zu den Fotografien aus dem Irakkrieg reicht. (Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 49 ff.) Immer wieder wird auch das „Bilder schiessen“ selbst als Jagd und Inbesitznahme gedeutet, das die Fotografierten bzw. Gefilmten zur Beute werden lässt. (Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2004, S. 19 ff.; Bernd Stiegler, Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Suhrkamp, 2006, S. 45, 139, 143, 233, 255) Das unverhüllte Gesicht eines toten Feindes könne im weiteren Kontext einer kollektiven Bilderinnerung gelesen werden, die bis zur Passion Christi zurückführe. (Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 49) Vielleicht lassen deshalb die leblosen Gesichtszüge von Saddam Hussein auch an das Grabtuch von Turin denken. Tsang Kin-Wah verweigert eine Inbesitznahme, er verfremdet die Bilder und vermeidet eindeutige Wahrheitsbehauptungen oder Wertungen. Er nimmt auf westliche Bildtraditionen Bezug, doch transferiert nicht das Leiden Unschuldiger, sondern den gnadenlosen Umgang der „zivilisierten Welt“ mit schuldig gewordenen Menschen in den White Cube der Kunst. Hier inszeniert er mithilfe architektonischer Raumelemente, täuschend schöner Textmuster und einem modernen „Kreuzweg“ in Form bewegter Bilder einen Ort, an dem existenzielle Fragen nach Vorstellungen wie Schuld und Menschlichkeit zur Diskussion gestellt werden.
In seinem Zyklus von Radierungen Desastres de la Guerra (1810–1814) schilderte Francisco de Goya unparteiisch, wie vor 200 Jahren Franzosen und Spanier gleichermassen mordeten und litten. Mit den Mitteln der Postmoderne – der Aneignung von filmischen Bildern – zeigt auch Tsang Kin-Wah ohne Partei zu ergreifen, wie nahe sich die vermeintlich zivilisierte Welt an den Abgründen der Unmenschlichkeit bewegt, wie notwendig eine beständige Überprüfung der Nutzung und Deutung von Bildern ist. Die weltweite und simultane Verfügbarkeit von Daten macht die Reflexion der eigenen Werte noch dringlicher. Dabei ist die Rolle der Bildmedien eine besonders brisante, weil Bilder und Filme unmittelbar und ohne Übersetzung funktionieren. Bildmedien eignen sich für Vereinnahmungen, Manipulationen und Vereinfachungen zur Überwältigung jener, denen die Texte fehlen. Auf die täglich neuen Schreckensbilder der Welt mit mehr Menschlichkeit zu reagieren, die Menschen hinter den Bildern, hinter der Propaganda, der Angstmache, dem Spektakel, wahrzunehmen – vielleicht bedeutet „Ecce Homo“ schlichtweg dies.