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Hoch, Stefanie

Waffen, Weltall, wilde Tiere – Das Universum des André Robillard

André Robillard, "Fusil Indien rapide WA18 – Fusil lourd", ca. 1980, Assemblage, 40 x 130 x 15, cm, Sammlung Frédéric Lux, Foto : Mirjam Wanner

André Robillards Werk wird der Art brut zugeordnet – doch als Aussenseiter kann man ihn kaum mehr bezeichnen. 1965 war der Künstler und Kunsttheoretiker Jean Dubuffet auf Robillards absurde Objektkombinationen aufmerksam geworden und hatte sie in seine wegweisende Sammlung mit Kunst von Aussenseitern aufgenommen. Heute geniesst der 83-jährige André Robillard internationale Aufmerksamkeit, Sammler und Kuratorinnen geben sich die Klinke seiner bunt bemalten Tür in die Hand. 2015 ist er der letzte lebende Künstler, dessen Werk noch von Jean Dubuffet persönlich in die Collection de l’Art Brut aufgenommen wurde. (Die von Künstler und Kunstkritiker Jean Dubuffet (1901–1985) seit den 1940-Jahren angelegte Sammlung von Aussenseiterkunst wurde 1976 als Museum Collection de l’Art Brut Lausanne der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.)
Die meisten Texte über André Robillard konzentrieren sich auf diese erstaunliche Biografie und Erfolgsgeschichte. Die vorliegende Annäherung hingegen stellt das Werk und dessen Wirkung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es nimmt seinen Beginn in den frühen 1960er-Jahren, als aus Abfall fantastische Objektassemblagen entstehen: Alte Metallteile, Glühbirnen, fragmentierte Apparate und Zigarettenschachteln wurden zu Gewehren, später auch zu Raumfahrzeugen und wilden Tieren verwandelt. Dabei zeigt André Robillards Schaffen erstaunliche Parallelen zu den grossen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts. Im Vergleich mit Zeitgenossen und Vorgängerinnen wird sichtbar, dass der Aussenseiter sich in seinem Werk intuitiv aber erstaunlich treffend mit den künstlerisch-gesellschaftlichen Fragestellungen jener Epoche auseinandersetzte.

Gestrandet. Das Material

1964 konstruierte André Robillard seine ersten Assemblagen. Ausgangsmaterial war das, was er an seinem Arbeits- und Wohnort vorfand: die Überbleibsel der Gesellschaft, die bei der Kläranlage einer psychiatrischen Klinik bei Orléans „strandeten“. So entstanden erste Gewehre aus Baustoffresten wie Rohren und Holzplatten, auf die er Altblech und allerlei Gerät montierte.
Das verwendete Material gibt Hinweise auf die Entstehungszeit der Assemblagen: Von den 1960er-Jahren bis in die 1980er dominieren technische Utensilien, einfache, einfarbige Metall- und Holzteile. Später werden die Fundstücke ausdifferenzierter und bunter, es finden sich mehr Elektrogeräte, Computerplatinen, Kunststoffe, ausrangiertes Spielzeug, sogar Musikinstrumente. Mittlerweile handelt es sich um den typischen Wohlstandsabfall einer Überflussgesellschaft. Teilweise bringen Sammler dem mittlerweile 83-Jährigen sogar Gegenstände zu dessen Wohnung auf dem Gelände der Klinik. So lassen sich in der Werkentwicklung von André Robillard weniger gravierende Stilveränderungen ablesen als vielmehr der Wandel der Dingwelt, die unsere Zivilisation hervorbringt.
Die von André Robillard verwendeten Überbleibsel der letzten 50 Jahre wecken je nach zeitlicher Distanz persönliche und kollektive Erinnerungen. Veraltete Modelle, Marken und Fabrikate lassen an die Garagen, Hobbyräume und Dachböden unserer Kindheit und Jugend denken. So berühren die Objektassemblagen trotz ihrer gewalttätigen Formensprache auch Vorstellungen von Vergänglichkeit und Nostalgie. Sie werden zu Gefässen für die Alltagsgeschichte, zu Stundengläsern unserer Wohlstandsgesellschaft. Sie zeigen, wie sich unsere Dingwelt seit der Nachkriegszeit rasant verändert und explosionsartig vervielfacht hat. Die Entwicklung der Zivilisation von einer sparsamen Nachkriegs- zu einer global verstrickten Wegwerfgesellschaft ist hier als Kunst festgezurrt. Und während heute unter unmenschlichen Bedingungen Massenware billigst produziert und teilweise absichtlich mit verkürzter Lebensdauer konstruiert wird, verweisen Robillards Waffen gleichsam auf Gründe für die heutigen Kriege: Absatzmärkte, Konsumverhalten und Rohstoffe.

Metamorphosen. Die Technik

Alles begann mit den Gewehren. Bis heute fertigt André Robillard sie am liebsten. Dafür sägt er zunächst jeweils aus Holzresten den Kolben. Auf dieser Basis werden verschiedene Fundstücke organisiert und alles mit Nägeln oder bunten Klebebändern fixiert zu einem Objekt in Form einer Schusswaffe: Eine Magnetspule verwandelt sich in ein Patronenmagazin, ein Haarfön wird zum Abzug und ein Küchenmixer zum Gewehrlauf. Die Dinge sind aus ihrem ursprünglichen Kontext gefallen, ihrem Zweck enthoben und erfüllen nun eine neue Bestimmung aufgrund ihrer dreidimensionalen Eigenschaften, als Passstücke.
Jeder Assemblage wird durch aufwändige Beschriftungen eine spezifische Identität verliehen: André Robillard bemalt und verziert Gewährschäfte oder andere Bauteile nicht nur mit Name und Signatur, sondern auch mit farbenfrohen Mustern und kleinen Abbildungen. Darüber hinaus hält er ausführlich technische Typenbezeichnungen fest und macht Angaben zu Schnelligkeit, Reichweiten, Meilensteinen der Weltgeschichte und ihren Protagonisten. So entstand über die Jahrzehnte hinweg ein Waffenarsenal mit realitätsnahen und fiktiven Modelltypen aus aller Welt – wobei ein Grossteil der Waffen den USA und Russland zugeordnet sind. Auf diese Weise lässt André Robillard die grossen Erzählungen vom Mächtespiel zwischen Nationen und Gesellschaftssystemen, Kommunismus und Kapitalismus aus der Erinnerung aufsteigen.
Die einfachen Klebebänder, die die Bauteile zusammenhalten, sind nicht unauffällig angebracht, sondern betonen in ihrer Mehrfarbigkeit beinahe, auf welch simple, aber effektive Weise eine Kalaschnikow, eine Rakete oder eine Raubkatze entstanden ist. Das Zusammenschnüren, Mehrfach-Umwickeln und Vernageln von Dingen erinnert an Fetische oder Voodoo-Puppen. Robillards materialisierte Wunschobjekte, deren einzelne Elemente mit elementaren Mitteln und physischer Kraft miteinander verbunden worden sind und diesen Entstehungsprozess offen zur Schau stellen, haftet daher auch etwas Alchemistisches an. Trotz ihrer martialischen Behauptung, Schnellfeuerwaffe oder Flugobjekt zu sein, zeigen die Objekte ihre Fragilität, Magie und die spielerische Lust an Verwandlung und Simulation.

Waffen, Weltall, Wildnis. Die Universen des André Robillard

André Robillard baut sich seine Welt. Er ist fasziniert von Waffen, der Raumfahrt und wilden Tieren. Innerhalb dieser Themenfelder und einem festen Repertoire von Mustern, Motiven und Techniken existiert ein grosser Facettenreichtum im Einsatz der gefundenen Materialien und in der künstlerischen Ausführung.
Die Gewehre entfalten ihre Wirkung gerade durch den Kontrast zwischen den wertlosen, harmlosen Bestandteilen und den mit ihnen simulierten todbringenden Waffen. Nach den Gewehren entstanden bald auch Raketen, Jagdbomber, Panzer, Pistolen und vieles mehr. Ob der 1931 geborene André Robillard die Atmosphäre der Bedrohung durch den Zweiten Weltkrieg in seinen Jugendjahren verarbeitete? Ob von Bedeutung ist, dass sein Vater gewalttätig war und bei seinen Streifzügen als Wildhüter den Sohn die Jagdwaffe tragen liess? Oder war es jene Zeit, als eine zornige junge Generation sich gegen ihre Väter wehrte und im übertragenen Sinn selbst zu den Waffen griff – wie Niki de Saint Phalle mit ihren Schiessbildern? Was auch immer die psychologische Ursache für Robillards Faszination an Waffen sein mag – Antworten darauf werden immer Spekulationen bleiben.
Das zweite grosse Themenfeld im Werk von André Robillard kristallisierte sich im Nachhall der Raumfahrtmissionen von USA und UdSSR ab den späten 1950er-Jahren heraus: Es ist das Weltall in Form verschiedenster Raumfahrzeuge und deren Besatzung, Protagonisten wie Neil Armstrong, Juri Gagarin und Laika, der erste Hund im All. Elektroschrott, Kunststoffreste und ausrangierter Sanitärbedarf erzählen von Ereignissen wie der Mondlandung und anderen „Sternstunden“ der Menschheit. Sie tauchen auch in Form von Holz-, Blech- oder Kunststofffiguren auf bzw. gemalt und gezeichnet auf Gewehrschäften, Papier und Leinwand. André Robillard baut also Dinge, die seinem Ausgangsmaterial in der Bedeutung diametral gegenüberstehen: Mithilfe von Schrott simuliert er Hochpräzisionsgerätschaften. Aus dem Nichts konstruiert er die Ausrüstung für einen Feldzug oder eine Weltraummission. Die Kläranlage von Fleury-les-Aubrays wurde so zur Abschussrampe für die fantastischen Höhenflüge des André Robillard.
Der dritte Themenkomplex ist die Welt der Tiere. Inspiriert hat André Robillard dabei massgeblich das Werk von Auguste Forestier, das er 1980 bei einem Besuch im Museum Collection de l’Art Brut Lausanne kennenlernte. Robillards Tiere sind hingebungsvoll detailliert gestaltet und wirken wie exemplarische Vertreter ihrer Gattung oder kleine Gottheiten, die der Künstler bewundert. Tatsächlich leisten ihm, der von Kindheit an auf Bauernhöfen und im Wald mit Tieren in Berührung kam, heute vor und in seinen Wohnräumen Hühner, Singvögel sowie eine Unmenge an Plüschtieren Gesellschaft.
Aus seinen Skulpturen und Arbeiten auf Papier und Leinwand spricht ein geradezu kindliches Erstaunen über die Schönheit und Andersartigkeit von Tieren. Weil die auf Papier und Leinwand gezeichneten Kreaturen oft monumental ins Bild gesetzt und mit dominanten Beschriftungen am unteren Bildrand oder mitten im Bild versehen sind, lassen sie an historische Darstellungen denken, die unbekannte Tierarten in Bestiarien, auf Emblemen oder Lehrtafeln vorstellten. Vielleicht erinnern seine oft stark von Schuppen, Fell oder Federn strukturierten Tierleiber sogar unterbewusst an eine im kollektiven Gedächtnis tief verankerte Tierdarstellung: Das Rhinocerus von Albrecht Dürer.
Zwar spielen bei der Beschriftung technische und geschichtliche Daten eine grosse Rolle, doch ufern die Darstellungen oft ins Fantastische aus: So schweben bisweilen fliegende Untertassen und Ausserirdische über bunt besternte Himmelszelte. Wenig naiv wirken die Objekte allerdings, wenn man in Robillards Waffen Bauteile wie Krücken oder Computerplatinen entdeckt oder dass ein chinesisches Gewehr aus Fotokamera, Walkman und Samsung-Telefon besteht.
Robillards martialisch-technisches Themenspektrum ist erschreckend faszinierend. Die Gewehre könnten als materialisierte Männer- bzw. Gewaltfantasien gelesen werden – brutal, aber auch naiv wie die Vorstellungsräume eines Kind gebliebenen Entdeckers. Verherrlicht das Pathos dieser Waffen Gewalt oder ist es doch subversiv gemeint? Diese Doppeldeutigkeit wirft die Urteilskraft der Betrachtenden aus den sicheren Interpretationsumlaufbahnen der Kunstgeschichte. Setzt der Aussenseiter die Entwaffnung der US-Army mit einem Pürierstab bewusst ein, den Hohn des Kruzifix am deutschen Sturmgewehr und den Irrwitz der Zigarettenschachtel mit dem Hinweis „Rauchen tötet“ an der Pistole? Jedenfalls zeigen Robillards Objekte die Absurdität und Doppelmoral eines gewaltbereiten und doch faszinierenden Planeten – den der Künstler scheinbar mit Hilfe seiner Raumschiffe gelegentlich hinter sich zu lassen vermag.

Verwandtschaften. Vorgängerinnen und Zeitgenossen

Bisher wurde das Werk von André Robillard im Kontext der Aussenseiterkunst wahrgenommen. Sein Lebensmittelpunkt auf dem Gelände einer psychiatrischen Einrichtung, der Mythos seiner Entdeckung durch Jean Dubuffet und die Musealisierung seines Werks in der Collection de l’Art Brut Lausanne legen diesen Kontext nahe. Die Anerkennung seiner Werke durch die Institution für Aussenseiterkunst wurde sogar zum „Motor“ des Schaffens von André Robillard. (Vgl. Sarah Lombardi, „André Robillard et la Collection de l'Art Brut: une histoire qui perdure“, in: André Robillard, Ausstellungskatalog Collection de l'Art Brut Lausanne, 5Continents Verlag, Mailand, 2014, S. 16) Man könnte Robillards Werk in Bezug setzen zum Schaffen anderer Aussenseiter: Die Begeisterung für Waffen und Schlachten ist ebenso bei Künstlern wie Paul Schlotterbeck, Alexander Pawlowitsch Lobanow oder Josef Wittlich zu finden. Tierwelten sind in der Art brut beinahe allgegenwärtig – beispielsweise bei Hans Krüsi, Ulrich Bleiker, Alpo Koivumäki und William Hawkins. Die Faszination für Typologien und technische Modellwelten trifft man bei Aussenseitern wie Alfred Leuzinger oder David Braillon an.
Was bisher bei der Interpretation von André Robillards Schaffen hingegen kaum wahrgenommen wurde, ist die Verwandtschaft seiner Objektassemblagen mit jenen im „offiziellen Kunstbetrieb“ des 20. Jahrhunderts.
Robillards Ausgangsmaterial sind ausgediente Alltagsobjekte. Die erste Montage von Alltagsgegenständen zu einem Kunstobjekt wird auf das Jahr 1913 datiert: Mit Marcel Duchamps „Fahrradrad“ war das erste objet trouvé oder Readymade geboren. Für die drei Jahre später in Zürich begründete Bewegung DADA spielten Formen des Collagierens, der Klitterung und der Montage eine entscheidende Rolle. In den 1930er-Jahren führte dann der Surrealismus das Kombinieren von Dingen weiter und die Künstlerinnen und Künstler auf die Flohmärkte von Paris. Die Dinge aus Kellern und Dachböden wurden zu Tage gefördert wie die Emotionen auf Sigmund Freuds Sofa. Gebrauchte Alltagsdinge sollten, auf bizarre Weise miteinander konfrontiert und verbunden, metaphysisches Befremden hervorrufen, und Abgründe hinter dem Alltäglichen aufblitzen lassen.
Meret Oppenheims Assemblage Ma gouvernante (1936) beispielsweise erinnert an Robillards Objektverschnürungen: Ein Paar Pumps, dessen Absätze wie Hühnerkeulen mit Manschetten ummantelt sind, liegt auf einem Silbertablett verschnürt zu einer Art Braten. Ohne die Surrealisten oder ihre diskursiven Hintergründe zu kennen, verwendet Robillard surrealistische Strategien: die der Irritation und Verrätselung, dafür weniger die der Andeutung und Narration. Bei ihm treffen Dinge wie Patronenhülsen, Staubwedel, Metallrad und eine Silikonspritzpistole unauflösbar aufeinander.
Wenige Jahre nach Oppenheim entstand aus der Kombination von Alltagsobjekten eine andere Ikone der Kunstgeschichte: Pablo Picasso vereinte durch eine simple Geste Velolenker und -sattel zu einem Stierkopf.
Anders als die Surrealisten agiert André Robillard ohne theoretisches Bewusstsein ausgehend vom Material, das ihm zur Verfügung steht, doch erreicht er eine ähnliche Wirkung wie die Surrealisten, die Psycholanalyse und Écriture automatique diskutierten. (Währenddessen erfüllte Robillard jene Vorstellung vom Zustand, für den sich die Künstleravantgarden so interessierten: dem des „verrückten“, von der Kultur unverfälschten Aussenseiters – was wiederum eine Projektion darstellt.) So faszinieren heute Robillards Assemblagen unter anderem vielleicht auch deshalb, weil sie im Unterbewusstsein an jene Meilensteine der Kunstgeschichte erinnern.
In der Wirkung existieren nicht nur Parallelen zu Dadaismus und Surrealismus, ebenso sind Bezüge zu Robillards Zeitgenossen im Kunstdiskurs der 1960er-Jahre auszumachen: Während in den USA Künstler wie Andy Warhol und Claes Oldenburg die Massenhaftigkeit der standardisiert produzierten Konsumwelt überhöhten, entstand in Europa die Bewegung Nouveau Réalisme. Auch sie strebte die Integration der Realität des täglichen Lebens in die Kunst an. Nur eine Stunde entfernt von Paris konstruierte der Sonderling Robillard seine ersten Gewehre aus Abfall. Hier wie dort spielten die Materialität und ihre Vergänglichkeit eine entscheidende Rolle: Raymond Hains und François Dufrêne legten die übereinandergeklebten Schichten von Plakatwänden frei, Daniel Spoerri fixierte Essensreste, Arman Abfalleimer. 1961 führte das Museum of Modern Art in New York mit der von William C. Seitz kuratierten Ausstellung „The Art of Assemblage“, an der viele Nouveaux Réalistes teilnahmen, den Begriff der Assemblage in die Kunstgeschichte ein. Auch die Akkumulation wurde zu einer wichtigen künstlerischen Strategie, als deren Hauptakteur Arman gilt. Doch bei Arman diente die Überfülle an Abfallprodukten nicht als Simulationsmaterial für figurative Welten, sondern deren Eigenleben wurde verdichtet und auratisiert.
Ein weiterer Zeitgenosse von André Robillard war Dieter Roth. Bereits 1949 entstanden dessen erste Collagen aus bemaltem Schrott. 1960 sah Dieter Roth in Basel Jean Tinguelys Maschinenskulpturen, für deren Konstruktion Tinguely seit jenem Jahr ebenfalls Fundstücke und Schrott verwendete. Ähnlich wie bei Robillard fand auch bei Roth eine chaotische und doch sinnhaft gestaltete Anhäufung und Konservierung von Alltagsdingen, von Organischem bis hin zu Büchern, statt.
Was Robillard tat – Aneignen, Verfremden, Täuschen, Simulieren und Sampeln – waren in jener Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg und inmitten des Wirtschaftswunders zentrale Methoden der Avantgarde. Wie sie verfremdete, entlarvte und mythologisierte er die Banalität der Dinge, was von der Appropriation Art ab den 1980er-Jahren noch weiter ausdifferenziert wurde. Trotz seiner vermeintlichen Randständigkeit spiegelt das Werk von André Robillard zentrale gesellschaftlich-künstlerische Fragestellungen der Epoche wider. In Bezug auf Ausgangsmaterial, Konstruktionsweise und Wirkung scheint es intuitiv den Geist der 1960er-Jahre zu treffen. Oder korrespondierte sein persönlicher Zustand, aus dem heraus seine Assemblagen entstanden, in gewisser Weise mit jenem der gesellschaftlichen Befindlichkeit?
Der 1931 geborene Franzose hat als Jugendlicher die Bedrohung des Zweiten Weltkriegs miterlebt, später in den Massenmedien den Kalten Krieg, die atomare Gefahr und den rasanten Fortschritt von Raumfahrt und Technik. Gleichzeitig war er unmittelbar mit dem Mangel der Nachkriegsjahre konfrontiert, der von einer überbordenden Konsumwelt abgelöst wurde. Robillards Arbeiten erzählen von Kriegen, technischen Entwicklungen, dem Überfluss der Warenwelt und dem Rückzug in eine Welt der Kindheit und des Spiels. Wer das Universum des André Robillard betritt, taucht ein in eine vergangene Welt, in der Kriege noch analog ausgefochten wurden und die Raumfahrt noch in den Kinderschuhen steckte – damals, bevor sich die Realität im 21. Jahrhundert in Aktienkursen und Datenströmen auflöste und verlor.
Robillard schuf über die Jahrzehnte hinweg einen erschreckenden wie poetischen Kosmos zwischen Schlachtgetümmel und Spielplatz, Geschichte und Fiktion, Schrecken und Leichtigkeit. Dieser Kosmos irritiert mit seinem ungewissen Status zwischen Naivität und Reflektiertheit, Pathos und Schalk, zwischen der Schwere der Vergangenheit und einer befreiend spielerischen Leichtigkeit, die diese Last auflöst. Ohne es zu ahnen, schuf der Sohn eines Wildhüters in einer psychiatrischen Klinik ein Universum, in dem sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt.