Hürlimann, Florian
Jacques Schedler
Ein beinahe vergessener Thurgauer Künstler
«Zum Naheliegenden hat man bekanntlich keinen Abstand, und was wir täglich vor Augen haben, wird alltäglich, und was alltäglich ist, kann nichts [B]esonderes sein», schrieb Jacques Schedler (1927–1989) im Vorwort des Buchs «Thurgau – gezeichnet von Jacques Schedler». Wenn Sie im Kanton Thurgau wohnen, sind Sie sicher bereits einem Werk dieses Künstlers begegnet. Sie gingen oder fuhren am Frauenfelder «Stadtwächter» vorbei, der im Auftrag der Thurgauer Kantonalbank am Haus «Gambrinus» entstand (1982). Sie stiegen die Treppe im Casino der Kantonshauptstadt hoch, wo Sie die Tänzerin und die drei Musikanten auf die bevorstehende Veranstaltung einstimmten (1957–1958), oder spazierten am Naturmuseum im Luzernerhaus vorbei, dessen Fensterläden immer noch mit Schedlers Motiven geschmückt sind (1971–1972). Womöglich nahmen Sie an einem Gottesdienst teil, als Schedlers Glasfenster Sie zwischen Predigt und Gesang in den Bann zogen, wie etwa in der Evangelischen Kirche Hüttwilen (1963), in der Reformierten Kirche in Buch am Irchel (1966), in der Abdankungshalle des kantonalen Friedhofs in Münsterlingen (1974) oder in der Katholischen Kirche St. Josef in Rickenbach-Sulz (1983). Ganz in der Nähe der Kartause Ittingen – etwa 300 Meter nordöstlich auf dem sanften Hügelzug – malte Jacques Schedler die Sonnenuhr der St. Martinskapelle in Warth (1976). Vielleicht fielen Ihnen diese Werke nicht auf, vielleicht waren sie Ihnen bereits zu vertraut, zu «alltäglich».
«Schauspieler, Seemann oder Maler – das war die Frage in meinen Jugendjahren»: Die Berufswahl für den 1927 in Bürglen geborenen Jacques Schedler fiel in eine schwierige Zeit. Die Familie war zwar nicht mittellos. Sein Vater Jakob Schedler (1894–1975) war Mechaniker, Gewerkschafter und ein überzeugter Sozialdemokrat, der 24 Jahre lang dem Grossen Rat angehörte. Aber für den Jungen aus der Arbeiterklasse, der zu seinem zehnten Geburtstag einen Ölfarbkasten geschenkt bekam und der von Rudolfs Kollers «Gotthardpost» einige Jahre später dermassen aufgewühlt war, dass er kaum mehr schlafen konnte, war ein Studium an einer Kunstakademie nicht möglich. Jacques Schedler absolvierte bodenständig eine Lehre als Flachmaler. Der innere Drang, Maler zu werden, wurde stärker. Ein Schlüsselerlebnis war der Spielfilm «Rembrandt» (1942) des deutschen Regisseurs Hans Steinhoff: «Von nun an», so schreibt Jacques Schedler rückblickend in einer biografischen Notiz, «waren bei mir alle Sicherungen durchgebrannt, und die Malerei hatte mich für immer.» Mit der Unterstützung der Eltern besuchte er schliesslich die Kunstgewerbeschule St. Gallen. Gleichzeitig arbeitete er als Dekorateur-Volontär beim Warenhaus Globus. Schon früh zeigt sich, dass Schedler praktische Kompromisse einging – und sich nie alternativlos für die freie Kunst entschied. Ein Umstand, der sich durch sein Leben ziehen wird.
Jacques Schedler sparte Geld und beschloss 1948, seine Studien in Paris weiterzuführen. Die Metropole galt noch als Nabel der Kunst, ihre Vorreiterstellung wurde ihr jedoch in der Nachkriegszeit allmählich von der Avantgarde in New York streitig gemacht. Schedler besuchte u. a. den Unterricht an der Académie de la Grande Chaumière, die als offene Kunstschule die Möglichkeit bot, sich für einige Wochen, Tage oder auch nur stundenweise einzuschreiben. Bei Fernand Léger und Johnny Friedlaender bildete er sich weiter, Letzterer machte Schedler – wie zahlreiche Kunstschaffende vor und nach ihm – in seiner Werkstatt mit verschiedenen Drucktechniken vertraut. Nachhaltigen Eindruck auf den jungen Künstler übten auch die Werke von Georges Braque aus. Wie viel Schedler von der zweiten École de Paris um Jean René Bazaine, Roger Bissière und Serge Poliakoff mitbekam und wie weit er in die Kunstszene Einblick hatte, ist unklar.
Mit seinen letzten Ersparnissen reiste Schedler im Sommer 1949 nach Südfrankreich, wo er im unter Künstlern beliebten Städtchen Collioure die lichtdurchflutete Landschaft malte, ehe er in die Schweiz zurückkehrte. Auf seine Pariser Studienjahre berief sich Schedler immer wieder, in keinem Lebenslauf fehlen sie. Auch für andere Thurgauer Kunstschaffende waren Aufenthalt und Studium in Paris wichtige Stationen, so etwa für Rudolf Baumgartner (Académie André Lhote), Tonio Frasson (Académie de la Grand Chaumière), Walter Fröhlich (École des Beaux-Arts), Willi Hartung, Emil Mehr (Académie André Lhote und Académie de la Grand Chaumière) oder Ernst Graf.
Kurz darauf stellte sich der künstlerische Erfolg ein: Schedler wurde zu einer Reihe von Kollektivausstellungen im In- und Ausland eingeladen und nahm an den Schweizerischen Kunstausstellungen in Bern (1951) und Basel (1956) teil, wo der Bund ein Bild ankaufte. Auch die Stadt Zürich erwarb ein Ölgemälde des inzwischen in Zürich-Wipkingen wohnhaften Schedlers. Grafikmappen erschienen 1954 und 1955, es folgten Wandbilder und Mosaiken an öffentlichen wie privaten Gebäuden. Um die Lebenskosten für sich und seine junge Familie bestreiten zu können, arbeitete Schedler fortan als Maler und nahm als Grafiker Auftragsarbeiten an.
Es scheint wohl 1957 gewesen zu sein, als Jacques Schedler an seiner Ausstellung im Gampiross in Frauenfeld auf ein baufälliges Riegelhaus in Warth aufmerksam gemacht wurde. Obschon in Zürich vernetzt, reifte die Entscheidung heran, das alte Bauernhaus zu erwerben und – dem Zeitgeist entsprechend – 1961 aufs Land zu ziehen. Das neue Zuhause bot die Möglichkeit, die Scheune zum grosszügigen Atelier auszubauen. Im Thurgau fehlte es ihm nicht an Arbeit: Schedler wurde für Illustrationen von Büchern engagiert, gestaltete Kirchenfenster und arbeitete am künstlerischen Auftritt des Kantons bei der Landesausstellung 1964 in Lausanne mit. Zwischen 1968 und 1975 führte Schedler als ideenreicher sowie umtriebiger Obmann die Geschicke der Thurgauer Künstlergruppe und bemühte sich um zahlreiche Ausstellungen. Zeitgleich setzte er sich als kritischer Zeitgenosse für soziale Anliegen und für ein kantonales Kunstmuseum im ehemaligen Kartäuserkloster Ittingen ein.
Die Verbindung nach Zürich brach aber nicht ab. Einmal wöchentlich unterrichtete Schedler an der Migros-Klubschule figürliches Zeichnen und Aktzeichnen. Ein ehemaliger Schüler erinnert sich, dass Schedler mühelos Charakterköpfe als Modelle auftreiben konnte. Häufig waren es Randständige aus der nahe gelegenen Langstrasse. Ein grosser Teil von Schedlers figürlichen Zeichnungen entstand während seiner Unterrichtstätigkeit, während der er die Zeit auch für eigene Werke nutzen konnte. Im Atelier arbeitete er am folgenden Tag dann das eine oder andere Blatt aus.
Der breiten Bevölkerung wurde Schedler ab den 1970er-Jahren insbesondere als Illustrator zahlreicher Bücher für Kinder und Erwachsene sowie von Zeitschriften bekannt, so beispielsweise für die femina (seit 1983 in der annabelle integriert), die Schweizer Illustrierte, Wir Brückenbauer (seit 2014 Migros-Magazin), die Satirezeitschrift Nebelspalter (Engagement von 1972 bis 1974) und den Kirchenboten der Evangelischen Kirche des Kantons Thurgau. Im Tiefsten ein religiöser Mensch, brachte Schedler persönliche Glaubensüberzeugungen im Kirchenboten ein, womit er ab und an auch aneckte. In die schaffensreichen 1970er-Jahre fielen ambitionierte Projekte, wie z. B. das Zeichnen sämtlicher Trachten der Schweiz anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Schweizerischen Trachtenvereinigung. Weitum bekannt wurden die im Huber-Verlag herausgegeben Zeichnungsbücher der Kantone Thurgau (1972), Schaffhausen (1973), St. Gallen (1974), um den Zürichsee (1975) und dem Tessin (1978). Es sind Bildbände, die aus Bleistiftzeichnungen entstanden, in denen Schedler Dorf- und Stadtansichten sowie Landschaften einfing: «Ich nahm die Natur als Vorbild. Ich versuchte, sie besser zu beachten, ich versuchte sogar, sie kennenzulernen, mit dem Stift sie mühsam nachzuvollziehen […]».
«In den Augenblick sich verlieren und sich darin vergessen, das war mein zeichnerisches Erleben.» Grundlage seiner Gemälde war die Zeichnung. Nach der ersten Skizze im Zeichenblock oder -heft, das ihn stets in seinem Auto begleitete und in das er ebenfalls Gedanken notierte, arbeitete er mit wechselndem Material. Er komponierte Form und Farbe, versuchte ein Gleichgewicht zu erschaffen, änderte, erweiterte, verstärkte oder milderte die Farben, bis ein Werk Harmonie und Ruhe fand. Aus dieser Auseinandersetzung mit Thema und Technik sind mehrere hundert Gemälde entstanden. Nach einem Intermezzo mit abstrakter Malerei in den frühen 1970er-Jahren entstanden Bilder, die sein Gefühl, im Thurgau zu Hause zu sein, widerspiegeln. Von dieser weiten Landschaft ohne schroffe Gegensätze, sanft gewellt, mit dem Wechsel von Wiesen, Feldern, Wäldern und den vielen eingebetteten kleinen Dörfern und Weilern erschuf er stimmungsvolle Bilder. Die Natur war Inspiration und Lehrmeisterin zugleich: «Aus der Natur schöpfte ich alle meine Kräfte […]».
Die Frage, weshalb Schedler nicht den grossen Durchbruch schaffte und heute beinahe vergessen ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Ein Grund wird wohl darin zu suchen sein, dass er trotz anfänglichen Erfolgs nie ausschliesslich auf die freie Kunst setzte. Er wurde von keiner Galerie unter Vertrag genommen, gewann keine bedeutenden Kunstpreise oder Stipendien und konnte in keiner etablierten Kunstinstitution ausstellen. Wurde Schedler als Künstler wahrgenommen? Oder doch eher als Grafiker, der nebenbei malte? Seine Werke waren eingängig und – wie oben erwähnt – harmonisch komponiert, aber es fehlt ihnen das Avantgardistische eines in den 1940er- und 1950er-Jahren aufkommenden Tachismus oder Informel, wie ihn Carl Liner oder Jakob Lämmler in der Ostschweiz vertraten. Für seine Werke entwickelte Schedler keine theoretischen Konzepte. Sein eigenes künstlerisches Selbstverständnis war konservativ und konventionell. Für ihn blieb der Massstab der Kunst das Können, welches Sehen, Beobachten, Formverständnis und Handwerk einschloss. Auch die Themen- bzw. Motivwahl – Landschaften, Stillleben, biblische Geschichten und wiederkehrende Motive wie das Liebespaar, der Flötenspieler, der Lebensbaum, Schweizer Brauchtum (z.B. Appenzeller Chläuse), Vögel – entsprachen nicht dem Interesse der etablierten Kunstinstitutionen.
Und dennoch: Im Thurgau kannte und schätze man Jacques Schedler. Auch in den 1980er-Jahren, als er mehr Zeit zum Malen fand und das Aquarell für sich entdeckte, stellte er aus und verkaufte rege. Freunde, Sammler und Mäzene gingen im Riegelhaus in Warth ein und aus. In seinem Skizzenheft notiert er: «Hatte heute Nachmittag Besuch im Atelier, die Leute nahmen auch etliche Bilder mit, ob aber zu guter Letzt etwas hängen bleibt, ist noch abzuwarten». Im Bernerhaus in Frauenfeld fand 1987 anlässlich seines 60. Geburtstags eine Ausstellung statt, in der Schedler einen Überblick über sein Schaffen der letzten Jahre und die Techniken, die er beherrschte, bot. Schedler starb eineinhalb Jahre später, am 13. April 1989, an den Folgen eines Herzinfarkts im Kantonsspital Frauenfeld im Alter von nur 61 Jahren. Er wurde in Hüttwilen, in dessen Kirche er die Fenster gestaltet hatte, bestattet. In der eingangs zitierten Publikation fasst Schedler sein Schaffen zusammen: «Unser Tun bleibt immer Versuch, ganz gleich was es auch sein mag. Aber im Versuch liegt der Sinn, der Sinn, das Naheliegende mit offenen Augen zu entdecken.»
Literatur
- Jacques Schedler (mit einem Vorwort von Regierungsrat Rudolf Schümperli), «Thurgau – gezeichnet von Jacques Schedler», Huber: Frauenfeld 1972.
- Markus Landert, «Highlights der modernen Glasmalerei: Jacques Schedler (1927–1989)». In: Amt für Denkmalpflege des Kantons Thurgau (Hg.), «Licht- und Farbenzauber: Glasmalerei im Thurgau», Basel 2022, S. 199–202.
- Hans Ruedi Fischer, «‹Dennoch ist diese Welt wunderbar›: Zum Abschied des Grafikers und Kunstmalers Jacques Schedler». In: Thurgauer Zeitung, Ausgabe vom 20. April 1989.
- Dino Larese, «Fünfzig Jahre Thurgauer Künstlergruppe», Amriswiler Bücherei: Amriswil 1990.
- Mario Tosato, «Ein Geschenk des Jodlerfestes». In: Der Landbote, Ausgabe vom 3. Februar 2001.