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Ittingen in Privatbesitz

In den verschiedenen Phasen der Auflösung von Klöstern, von der Reformation über die Französische Revolution bis zu den schweizerischen Klosteraufhebungen um 1848, sind vielfach Klosteranlagen in Privatbesitz gelangt oder wurden durch die Öffentlichkeit umgenutzt. Die neuen Nutzungen haben oft zu einschneidenden Veränderungen oder gar zur totalen Zerstörung geführt. In Ittingen liegt der Glücksfall vor, dass nicht nur grosse Teile der Anlage erhalten geblieben sind, sondern auch die landwirtschaftlich geprägte Umgebung der ehemaligen klösterlichen Eigengüter.

Die Kartause als Spekulationsobjekt

Nach dem überstürzten Verkauf aller Klostergüter einschliesslich Zehntrechten durch den Kanton 1856 waren zwei Appenzeller Unternehmer die ersten Privatbesitzer. Durch die Ablösung der Zehnten, den Verkauf von Gütern und Wäldern, die Weiterführung des Weingeschäfts und schliesslich 1867 den Verkauf der Klosteranlage mit ihrer unmittelbaren Umgebung, den ehemaligen klösterlichen Eigengütern, vermochten sie ihren Einsatz zu vervielfachen.

Gutsherr Victor Fehr

Der Käufer der Klosteranlage von 1867 war der junge St. Galler Unternehmersohn Victor Fehr (1846–1938). Er hatte sich früh für Landwirtschaft interessiert, Praktika absolviert sowie Studien an der landwirtschaftlichen Akademie Bonn und an der ETH Zürich. Die Wirtschaft in Ittingen wurde unter ihm diversifiziert: Weinbau, Ackerbau, Vieh- und Milchwirtschaft mit Butterproduktion waren die wichtigsten Zweige. Victor Fehr führte jedoch nicht allein einen innovativen landwirtschaftlichen Grossbetrieb, sondern engagierte sich intensiv als Mitbegründer der Gesellschaft Schweizerischer Landwirte und des Schweizerischen Bauernverbandes sowie als Initiator der ersten Versuchsstation für Obst-, Wein- und Gartenbau der Schweiz in Wädenswil und der landwirtschaftlichen Schule Arenenberg.

Kaiserbesuch 1913

Ein gesellschaftlicher Höhepunkt des Lebens in der Klosteranlage als Gutsherrensitz war der Besuch von Kaiser Wilhelm II. Dieser war 1912 zum Besuch von militärischen Manövern in der Umgebung von Wil und Kirchberg in die Schweiz gereist. Dieser Besuch war ein publizistisches Grossereignis. Am 4. September wurde dem deutschen Herrscher mit Gefolge im Refektorium der Kartause Ittingen ein Mittagessen serviert. Der Bundesrat bedankte sich später bei Victor Fehr dafür, sein „schönes, altertümliches Heim" zur Verfügung gestellt zu haben: „Der hohe Gast hat in seinem romantischen Sinne Ihre grosse Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft sehr angenehm empfunden und reichlich belobt."

Drei Generationen der Familie Fehr

Victor Fehr war im Betrieb bis zu seinem Tod engagiert, doch hatte er dessen Leitung schon zuvor seinem Sohn Edmund Fehr (1883–1965) übergeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte auch die Kartause unter den erschwerten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft in der Schweiz zu leiden. Zudem wurde es zunehmend schwieriger, der grossen historischen Anlage den nötigen Unterhalt zukommen zu lassen. Nach dem Tod Edmund Fehrs suchte die Erbengemeinschaft nach einem Käufer und verhandelte mit diversen Interessenten, bis 1977 der Verkauf an die Stiftung Kartause Ittingen zustande kam.