Messmer, Dorothee
Gott sehen. Die Kunst und das Überirdische
Text: Publikation "Gott sehen. Das Überirdische als Thema in der zeitgenössischen Kunst", Sulgen 2005
Zu bestellen im Shop. In einem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel der London Times war zu lesen, ein britischer Physiker habe mit Hilfe einer 200 Jahre alten Theorie eines englischen Mathematikers berechnet, Gott existiere mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent. In einer anderen Zeitung behauptete ein amerikanischer Biologe, das erste "Gottes-Gen" lokalisiert zu haben. Seine These: Ein spezielles Gen stimuliere die Ausschüttung von Glückshormonen, die ebenfalls bei religiösen Erfahrungen auftreten. Manche Menschen seien damit empfänglicher für Mystik als andere.
Diese zwei Beispiele veranschaulichen stellvertretend für unzählige weitere Presseberichte der letzten Monate, wie sehr unsere Gegenwart durch die Wiederkehr des Religiösen gekennzeichnet ist. Nachdem Gott mit Nietzsches Aussage „Gott ist tot“ im letzten Jahrhundert zu Grabe getragen wurde, drängen heute religiöse Deutungsmuster in die Arena der politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzung zurück.
Glauben in der Schweiz
Im Jahr 2000 gaben 84,6 % aller in der Schweiz lebenden Personen an, einer kirchlichen Gemeinschaft zuzugehören. An der Spitze der Scala standen die beiden Landeskirchen, die katholische mit 41,8 %, gefolgt von der protestantischen mit 35,3 %. Die islamischen Gemeinschaften machten 4,3 % aus, die christlich-orthodoxen 1,8 % und die jüdische Glaubensgemeinschaft 0,2 %. Weitere Kirchen und Religionsgemeinschaften waren mit 1,0 % angegeben. 11,1 % gaben an, sich nirgendwo zugehörig zu fühlen, und 4,3 % machten keine Angaben.
Diese Ergebnisse sollten die Kirchen eigentlich positiv stimmen. Erstaunlich ist jedoch, dass nur gerade 10 % der Bevölkerung regelmässig am Gottesdienst teilnehmen. Der Glaube scheint für viele eher eine philosophische Idee oder eine allgemeine Weltanschauung zu sein. Diese Feststellung wird illustriert durch die Aussage eines prominenten Schweizers, der sich in einem Zeitungsinterview als nicht religiös bezeichnete. Er fügte jedoch hinzu: „Ich glaube nicht an Gott, aber an spirituelle Werte, die nicht rational erklärbar sind.“
Bereits 1993 hielt die religionssoziologische Studie "Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz" fest, dass zwar Religion für viele Menschen nach wie vor wichtig ist, dass diese aber "immer weniger einer von den kirchlichen Institutionen und deren Autoritäten festgelegten Ordnung" folgt. Aus Bestandteilen unterschiedlichster Herkunft schaffe sich der Einzelne mehr und mehr seine eigene "Patchwork-Religion". Die Publizistin Clara Obermüller beobachtete: „Spricht man mit Leuten, die sich in diesem modernen Sinn als religiös beziehungsweise als spirituell bezeichnen, stellt man fest, dass die meisten von ihnen Mühe haben mit einem personalen Gottesbegriff, dass sie mit religiösen Institutionen nichts mehr anzufangen wissen.“
Mit der fortschreitenden Globalisierung wird die Vermischung der religiösen Inhalte weiter zunehmen. Wir Menschen sehen uns dann, wie in einem Warenhaus, einer Vielfalt von Lebenshilfeangeboten gegenüber. Symbole und Rituale lösen sich von ihrem religiösen Ursprung, aber ihre Fähigkeit, das Unfassbare auszudrücken, bleibt dennoch erhalten. Diese Grundgültigkeit bestimmter Symbole und Rituale erklärt das kollektive Anzünden von Kerzen nach dem Anschlag auf den Madrider Bahnhof oder den grossen Publikumsansturm bei interreligiösen Feiern nach der Tsunami-Katastrophe.
Andere Entwicklungen in Europa und in der Schweiz zielen mehr und mehr auf einen evangelikalen Glauben nach amerikanischem Muster. Im Steigen begriffen sind Freikirchen wie die Filialen der „International Christian Fellowship (ICF)“ oder „Basileia“, die „einer bunten Partyreligion mit therapeutischem Anspruch frönen“, so der Journalist Michael Meier in einem Artikel über christlichen Fundamentalismus in der Schweiz.
Diese Glaubensrichtungen sind evangelikal ausgerichtet: sie fühlen sich einem Christentum zugehörig, das sich unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit auf die Bibel als Glaubensgrundlage beruft. Das Buch der Bücher gilt als das wahre und absolut verlässliche Wort Gottes, das klare Antworten auf die Fragen des Alltags liefert und einen ewigen Moralkodex beinhaltet.
Zurück zum Religiösen
Wo liegen die Gründe für die Rückkehr zum Religiösen? Klara Obermüller verbindet das Bedürfnis, Gott kennen zu lernen, mit der Suche nach Gemeinschaft, die in unserer globalisierten Welt an Bedeutung gewinnt. Der amerikanische Anthropologe Roger N. Lancaster bezeichnet den Trend hin zum Glauben mit einer „sich ausbreitenden Kultur der Verzweiflung, einem Sehnen nach der Wiederherstellung einer übergeordneten Autorität“ und mit dem “Anstieg – und Zusammenstoss – von Fundamentalismen.“ Für den Philosophen Gianni Vattimo liegen die Gründe in einer Wiederkehr des Verdrängten: "Indem der klassische Gedanke der Aufklärung geglaubt hat, er könne die ganze Religion mit einem Mal liquidieren, hat er nichts anderes getan, als sie ins Unterbewusste zu verdrängen." Den Wert der Religion sieht er u.a. in der Verinnerlichung von „gemeinsamen Verhaltensnormen, die man auch Kollektiv-Werte nennt“ Auch der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf geht diesen Fragen in seinem Buch „Die Wiederkehr der Götter“ nach. Für ihn macht die Religion die Bedrohlichkeiten des Lebens erträglich und liefert „etwas wie ein existenzielles Orientierungswissen, wodurch der Mensch gesellschaftliche Umbrüche und persönliche Schicksalsschläge bewältigt. (..) Der Glaube lebt fort, weil die chaotische Welt seiner bedarf.“
„Gott sehen“
Die Ausstellung „Gott sehen. Das Überirdische in der zeitgenössischen Kunst“ greift diese Entwicklungen auf. Gleichzeitig aber legt die besondere örtliche Situation der Ausstellungsräume die Auseinandersetzung mit dem Thema nahe, denn das Kunstmuseum des Kantons Thurgau ist in einem ehemaligen Kartäuserkloster beheimatet, dessen historische Räumlichkeiten - die Kirche, die Mönchszellen, der Kreuzgang u.a. - heute für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Spiritualität der Mönche, die über vierhundert Jahre lang die Kartause bewohnt haben, hat in den Klosterräumlichkeiten eine grosse Vielfalt bildnerischer Umsetzungen hervorgebracht , die heute noch Zeugnis eines tiefen Glaubens ablegen. Die Angehörigen des Kartäuserordens verfügten – und verfügen bis heute – über eine besonders ausgeprägte Affinität zur Spiritualität. Ihr Leben weihen sie schweigend „der Suche nach Gott in der Verborgenheit des Herzens“, (Text der Ordens-Webseite) . Das wichtigste Instrument für diese Suche war das Gebet, verbunden mit der selbst gewählten Einsamkeit in der Klause. Diese zwei Elemente sind noch heute die beiden Eckpfeiler des Kartäuserordens.
Seit 1848 leben in Ittingen keine Mönche mehr. Heute betreibt eine privatrechtliche Stiftung die Kartause als Seminarzentrum, mit Hotel, Restaurant, einer geschützten Werkstätte, zwei Museen und dem tecum, einem Projekt der evangelischen Landeskirche. Der Ort selbst erzählt jedoch nach wie vor von einem aussergewöhnlichen Willen zur Spiritualiät, der noch ganz im mittelalterlichen Denken verwurzelt ist, – eine Haltung, die viele Besucher und Besucherinnen gleichermassen irritiert wie fasziniert.
Kunst und Religion - eine schwierige Beziehung
Die Bereiche der Kunst und der Religion, die die Ausstellung „Gott sehen“ gleichermassen kennzeichnen, pflegen seit langer Zeit ein gespanntes Verhältnis. Bis weit in die Neuzeit hinein stand die bildende Kunst ganz im Dienst der Religion. Sie hatte die Aufgabe, die religiösen Inhalte in Bilder zu fassen, um die Lehre der Kirche allen Schichten zugänglich zu machen. Mit der Aufklärung „und ihrer Vorstellung, sich selbst zu emanzipieren, indem die Vernunft einen gottähnlichen Status erhält“ , trennte sich die Kunst von der Religion, sie wurde autonom. In einem Handbuch für die Freunde der christlichen Kunst war schon Mitte des 19. Jahrhunderts zu lesen: „Einer Kunst, die das ‚non serviam’, (ich diene nicht), so ungescheut als Losungswort nimmt, wird die Kirche sich auch nicht bedienen können.“ Heute ist die Kunst längst völlig säkularisiert. Die Beziehung zur Kirche ist zerbrochen. Der Kunstwissenschaftler und Theologe Johannes Rauchenberger schreibt dazu: „Die Trennung von Kunst und Kirche ist heute am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts so weit vorangeschritten, dass sie kein Thema mehr ist, so fremd ist man einander, so weit entfernt voneinander, ja so skurril scheinen die verschiedenen Baukörper und Lebensformen zu sein.“
Trotz der vollzogenen Autonomisierung der Kunst ist ihr aber die Aura des Göttlichen haften geblieben. Mittlerweile scheint sogar ein Rollenwechsel stattgefunden zu haben. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland schrieb 1993 in einem Memorandum zum Verhältnis der Kirche zur bildenden Kunst der Gegenwart: „Der Grund für das wachsende Interesse an der Kunst der Gegenwart liegt u.a. darin, dass man in den Kunstwerken einem unverbrauchten Angebot hinsichtlich der Fragen nach Sinn, Symbol, Mythos, Lebens- und Weltdeutung zu begegnen hofft. In Kreisen einer neuen Bildungsschicht wird der Umgang mit Kunst bereits zu einer Art Ersatzreligion, zumal die Kunstpräsentation, die Überhöhung von Künstlern und Ausstellungsmachern mitunter quasireligiöse Formen annehmen.“ Und Klaus Biesenbach, der Kurator der 2004 im Hygienemuseum Dresden durchgeführten Ausstellung „Die Zehn Gebote“, stellte fest: „Kunst hat parallel zu dem Bedeutungsverlust von Religion in vielen Bevölkerungsgruppen eine Rolle übernommen, der das Erhabene, Sublime, Wahre und Schöne, das Erhellende und Transzendente zugewiesen wird.“
Keine „christliche Kunst“
Seit ihrer Säkularisierung ging das Kunstsystem über lange Zeit zu religiösen oder kirchlichen Inhalten in Distanz. Der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes, der seit den siebziger Jahren die „SJ Kunst-Station Sankt Peter“ in der gleichnamigen Kirche in Köln kuratierte, war einer der ersten, der sich der Beziehung von Kunst und Kirche wieder annahm, ohne die Autonomie der Kunst in Frage zu stellen. Er meinte in einem Interview: „Kunst und Religion habe ich immer getrennt. Das ist mir ganz wesentlich. (...) Sie (die Kunst) ist autonom geworden. Seither gibt es einen ziemlichen Bruch zwischen Kirche und Kunst. Dieser Bruch wird deutlich, indem man in eine Kirche geht und feststellt, dass es dort weiterhin keine Kunst gibt (...) Kunst ist kein Einrichtungsgegenstand. Kunst ist für mich ein Gegenstand der Auseinandersetzung, nicht der Schmückung.“
Christlich religiöser Kunst wird denn auch oft der Vorwurf gemacht, sie diene der reinen Dekoration religiöser Inhalte. Das Etikett „christlich“ scheuen die Kuratierenden wie der Teufel das Weihwasser. In den meisten Ausstellungen, die sich in den achtziger und vor allem Ende der neunziger Jahren mit religiösen Inhalten auseinandersetzten, ging es ausdrücklich nicht um so genannte christliche Kunst. Johannes Rauchenberger zieht aus dieser Feststellung den Schluss: „Strittig ist Kunst mit dem Etikett „christlich“, nicht die „Religion in der Kunst“.
Religiöse Motive ohne religiöse Inhalte
Dabei hat sich die autonome Kunst oft und gerne mit religiösen Motiven auseinandergesetzt. Die meisten Werke entstanden aber ausserhalb der alten Beziehung, nicht im Dienst der Kirchen, sondern als Werk in Zusammenhang mit ästhetischen Fragestellungen. Die bevorzugten Motive (das Kreuz, die Passion, Pieta usw.) entstammen einer über Jahrhunderte dauernden Prägung der kulturellen Identität durch die Religion, die eine grosse Vielfalt ikonografischer Motive hinterlassen hat. Viele Werke greifen heute deshalb auf die Bildtradition religiöser Inhalte zurück, ohne explizit religiöse Inhalte zu vermitteln. Die Ausstellung „Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen“, die anlässlich des ersten ökumenischen Kirchentages 2003 in Berlin stattfand, untersuchte etwa „anhand ausgewählter Werke von internationalen Künstlern die heutige Virulenz christlicher Motive und Bildvorstellungen in den visuellen Künsten, ohne explizit deren religiösen Gehalt aufzusuchen oder gar per se zu unterstellen.“ Dies führte auch zu Kritik: „Das Ganze ist eine attraktive und äußerst unterhaltsame Zusammenstellung ganz verschiedener Arbeiten, die alle irgendwie mit dem Menschen und manchmal – zumindest im Titel – auch mit Religion zu tun haben. Doch welche Kunst hat das nicht?“
Die Frage spricht ein Thema an, das immer wieder zu Beanstandungen von zeitgenössischen Ausstellungen mit religiösen Themen führt: der Vorwurf der Beliebigkeit. Dies rührt daher, dass Kunstwerke in Ausstellungen mit religiösen Themen immer noch an früheren Massstäben - an der bildlichen Umsetzung und Dekoration kirchlicher Inhalte - gemessen wird. Die künstlerischen Denk- und Produktionsweisen haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch massiv verändert. Künstlerinnen und Künstler wenden sich heute auch Themen aus dem Bereich des Alltags, der persönlichen Lebens- und Arbeitsumstände, gesellschaftlicher Phänomene und den existentiellen Befindlichkeiten des menschlichen Individuums zu, und das Kunstsystem legt vermehrt soziale und politische Inhalte und Fragestellungen als Beurteilungskriterien an Kunst an. Verbindungen zeitgenössischer Kunstwerke mit religiösen Themen sind deshalb nahe liegend, denn beide Bereiche beschäftigen sich mit unserer Wahrnehmung und verbildlichen elementare, existenzielle gesellschaftliche Themen wie Geburts- und Todeserfahrungen, Leiden, Gewalt, Glück, Liebe, Hoffnung, Ethik und Moral, Opfer, Magie, Gewalt, Sexualität, Wirklichkeit und Fiktion oder das Unerklärliche.
Das Überirdische als Thema der zeitgenössischen Kunst
Wenn also, wie Eingangs festgehalten, das Religiöse in unserer Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, so darf es nicht erstaunen, dass das Überirdische selbst zum Thema von Ausstellungen wird. In den letzten Jahren wurden denn auch mehrere Projekte mit religiösen Themen lanciert. Ausstellungen wie „Seven Sins“ im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, Bozen, oder „Himmelschwer. Transformationen der Schwerkraft“ im Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz, fallen in diese Zeit, in der „Künstler, Kuratoren, ja selbst Galeristen ihre Augen vermehrt gen Himmel richten“, wie eine Kritikerin ironisch bemerkte. Ein viel besprochenes Beispiel ist die 2004 eröffnete Ausstellung „Die Zehn Gebote“ im Hygienemuseum Dresden, die den Dekalog ins Zentrum stellte und nach der aktuellen Bedeutung dieses ethischen Verhaltenskodex’ fragte. Der Kurator Klaus Biesenbach wählte zu diesem Zweck Werke von 69 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern aus, mit denen er die Besucher konfrontierte und sie aufforderte, „die Gültigkeit tradierter ethischer Werte zu hinterfragen.“
Auch die Ausstellung „100 Artists see God“, gehört in diese Gruppe. Das Projekt, das von den Kunstschaffenden John Baldessari und Meg Cranston initiiert wurde und momentan auf weltweiter Tournee ist, startete 2002. Es hatte einen konkreten Auslöser: „The date is significant: we began this project six months after the bombing of the World Trade Center in New York.“ Die beiden Künstler registrierten damals, dass Zeitungen, Magazine, Fernsehen und Radiokanäle voll von Artikeln über Gott waren: „God was everywhere“ und, so fügen sie bei, „Artists were uncharacteristically silent“. Diese Feststellung brachte sie dazu, Gottesbilder zum Thema ihres Ausstellungsprojekts zu machen. Ihr Vorgehen war anders als in „Die Zehn Gebote“. Sie fragten Kunstschaffende nach ihrer Vorstellung von Gott, und baten sie um ein Werk, dass für sie in einem Zusammenhang dazu steht. „We selected the artists because we were fans of their work, not because they had necessarily ever done an artwork about god. Some had, some had not. We selected artists we thought might be up to the challenge, and some practical restrictions aside, we decided we’d take what we got.” Diese zwei Beispiele jüngst durchgeführter Ausstellungen belegen, – stellvertretend für weitere Projekte – dass heute von Seiten der Kunst aktiv auf das Religiöse zurückgegriffen wird.
Überlegungen zur Ausstellung
Im Projekt „Gott sehen“ wurden die Vorgehensweisen beider oben angesprochenen Ausstellungen zur Anwendung gebracht. Einige der Kunstschaffenden wurden gebeten, sich zur Frage „Wie stellst Du Dir Gott vor?“ oder „Was für Überlegungen verbindest Du mit dem Gedanken an eine höhere Instanz?“ bildnerisch zu äussern. Adel Abdessemed, Carla Ahlander, Gernot Wieland, stöckerselig, San Keller, Till Velten, Christof und Markus Getzner, Hendrikje Kühne & Beat Klein sowie Zelijka Marusic & Andreas Helbling haben sich dieser Aufforderung gestellt und präsentieren ihre Arbeiten zum Thema. Die Resultate sind höchst unterschiedlich: Der Bogen reicht von Imaginationen über Recherchen zum Überirdischen bis zu bildlichen Umsetzungen und zeitkritischen Überlegungen. „Gott“ oder „das Göttliche“ werden dabei übersetzt mit Spiritualität, Sinngebung, Kirche, Religion, Schöpfung oder existenziellen Fragen generell. Die thematische Ausrichtung der Arbeit bleibt bei dieser Form der kuratorischen Tätigkeit letztlich ein Entscheid der Künstlerin oder des Künstlers.
Eine zweite Gruppe von Künstlern präsentiert Werke, die bereits existieren, aber mit dem Thema eng verknüpft sind: Franz Huemer, Richard Phillips, Valérie Mréjen, Constantin Khudyakow, Duane Michals, Usine de Boutons, Jan Mancuska, Daniel Gallmann, Huang Yong Ping, Adam Chodzko und Richard Grayson haben das Überirdische in ihrem Werk unabhängig von der geplanten Ausstellung, thematisiert. In dieser Gruppe erfolgte die Auswahl der Themen, respektive der Arbeiten, durch die kuratierende Person.
Eine dritte Gruppe schliesslich umfasst Künstlerinnen und Künstler, die um eine bestimmte bestehende Arbeit gebeten worden waren, aufgrund des Themas der Ausstellung aber eine andere Arbeit vorschlugen (Louise Bourgeois, Justine Kurland) oder gar ein neues Werk herstellten (Pawel Althamer, Barthélémy Toguo).
Mit diesen unterschiedlichen Strategien der Auswahl wird keine Objektiviät angestrebt, geschweige denn eine politisch, kulturell und geografisch korrekte Zusammensetzung der Kunstschaffenden. Andere Überlegungen leiteten die Wahl der Künstlerinnen und Künstler: Da ist zum einen das Vertrauen in bestimmte Künstlerinnen und Künstler, sich auf ein bestimmtes Thema und eine vorgegebene örtliche Situation einzulassen und quasi als Katalysatoren der Gesellschaft eigene Gedanken, Ideen und Vorstellungen bildnerisch umzusetzen. Dies betrifft jene Kunstschaffenden, die mit der Frage nach ihrer Assoziation des Göttlichen konfrontiert wurden. Bei einzelnen Künstlerinnen und Künstler war es dann auch durchaus wichtig, dass sie einem bestimmten kulturellen oder religiösen Umfeld entstammen, und dies in ihrer Arbeit thematisieren. Ein Beispiel dafür ist der Algerier Adel Abdessemed, der aus dem Maghreb stammt, heute in Frankreich lebt und immer wieder religiös-kulturelle Fragen ins Zentrum seiner Arbeit stellt. Ein anderes Beispiel ist der Moskauer Constantin Khudyakow, dessen Arbeit stark in der Tradition der russisch-orthodoxen Ikonenmalerei verhaftet ist. Eine dritte Gruppe von Kunstschaffenden zeichnet sich dadurch aus, dass ihre künstlerische Betätigung stark in ihrer eigenen Spiritualtiät verhaftet ist und mit ihren persönlichen Erfahrungen eine untrennbare Einheit bildet. Der Aussenseiterkünstler Franz Huemer, der sich seine private Mythologie erschaffen hat, die Brüder Christof und Markus Getzner, von denen der eine als ordentlicher Mönch im buddhistischen Kloster lebt und die Vergänglichkeit zum Hauptinhalt seiner Werke macht, oder Daniel Gallmann, der seit Jahren auf der Suche nach einem Urbild des Göttlichen ist, erweisen sich als Schöpfer von eigenständigen Lebens- und/ oder Glaubensentwürfen, in denen der Übergang von Kunst und Leben fliessend ist. Einen weiteren Akzent setzen Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die auf das Religiöse als gesellschaftliches Phänomen reagieren. In diese Gruppe gehört etwa Richard Graysons Projekt „Messiah“, der sich mit dem amerikanischen Fundamentalismus auseinandersetzt, die Arbeit von Justine Kurland, die nach dem 11.September 2001 Angehörige utopischer Gemeinschaften in den USA porträtierte, oder die (fiktiven) Software-Kits zum schnellen Wechseln der Religion von Usine de Boutons.
Zuguterletzt interessieren auch Werke, die das „Gottesbild“ in unserer Wahrnehmung selbst thematisieren. Richard Phillips’ „Portrait of God (after Richard Bernstein), Adam Chodzkos Bilder-Sammlung von Menschen, die glauben, wie Christus auszusehen, oder Pawel Althamers Inszenierung einer Christus-Darstellung gehören in diese Gruppe.
Die Ausstellung versteht sich so als eine Plattform verschiedenster Ansätze, Ideen und Hinweisen zum Thema des Überirdischen. Die einzelnen Werke fordern das Publikum auf, sich mit Gottesbildern und heutigen Glaubensvorstellungen auseinanderzusetzen und eigene Betrachtungsweisen zu hinterfragen.
Diese zeitgenössischen Positionen werden über heutige religiöse Ansichten zur Spiritualität in den historischen Ort eingebunden. Sieben Personen verschiedener Glaubensrichtungen wurden eingeladen, über ihr persönliches Bild von Gott zu sprechen. Die Äbtissin eines Zisterzienserinnenklosters etwa beschreibt im barocken Chorgestühl der Kirche Formen des Gebets zu Gott. Der Imam einer benachbarten albanischen Gemeinde singt im Kreuzgarten des Klosters eine kurze Sequenz aus einer Sure des Korans und ein indischer Ernährungswissenschaftler spricht in der reich bebilderten Sakristei vor einem christlichen Dreifaltigkeitbild über Gott und Götter im Hinduismus. Die aufgezeichneten Gespräche können während der Ausstellung ebenfalls per Audioguide abgerufen werden.
Einen weiteren Zugang zur Ausstellung öffnet schliesslich die vorliegende Publikation. In ihr werden die Projekte der Künstlerinnen und Künstler einzeln beschrieben und erläutert. Zwei Texte befassen sich mit zusätzlichen Aspekten des Themas: Der Kunsthistoriker Johannes Stückelberger thematisiert die Entwicklung der Gottesbilder in der westlichen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, und Kapuzinerpater Dietrich Wiederkehr gibt einen kurzen Abriss der Geschichte des Gottesbildes aus der Sicht der Theologie wieder.
„Gott sehen“ steht als Ausstellung, die das Religiöse thematisiert, nicht allein. Eine Besonderheit zeichnet dieses Projekt aber vor allen anderen aus: Der starke inhaltliche und räumliche Bezug zum Ort und seine Einbindung in die Ausstellung erleichtern den Zugang und legen – dem Publikum und den Kunstschaffenden – eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema nahe. Die Geschichte der Kartause und ihrer Bewohner, die Bilder, die aus einer Zeit stammen, in der die Kunst noch ganz in ihrer traditionellen Rolle verhaftet war, sorgen für ungewohnte Zusammenhänge und überraschende Erkenntnisse. Dadurch gelingt eine umfassendere, vertiefte Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst.
Zu bestellen im Shop. In einem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel der London Times war zu lesen, ein britischer Physiker habe mit Hilfe einer 200 Jahre alten Theorie eines englischen Mathematikers berechnet, Gott existiere mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent. In einer anderen Zeitung behauptete ein amerikanischer Biologe, das erste "Gottes-Gen" lokalisiert zu haben. Seine These: Ein spezielles Gen stimuliere die Ausschüttung von Glückshormonen, die ebenfalls bei religiösen Erfahrungen auftreten. Manche Menschen seien damit empfänglicher für Mystik als andere.
Diese zwei Beispiele veranschaulichen stellvertretend für unzählige weitere Presseberichte der letzten Monate, wie sehr unsere Gegenwart durch die Wiederkehr des Religiösen gekennzeichnet ist. Nachdem Gott mit Nietzsches Aussage „Gott ist tot“ im letzten Jahrhundert zu Grabe getragen wurde, drängen heute religiöse Deutungsmuster in die Arena der politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzung zurück.
Glauben in der Schweiz
Im Jahr 2000 gaben 84,6 % aller in der Schweiz lebenden Personen an, einer kirchlichen Gemeinschaft zuzugehören. An der Spitze der Scala standen die beiden Landeskirchen, die katholische mit 41,8 %, gefolgt von der protestantischen mit 35,3 %. Die islamischen Gemeinschaften machten 4,3 % aus, die christlich-orthodoxen 1,8 % und die jüdische Glaubensgemeinschaft 0,2 %. Weitere Kirchen und Religionsgemeinschaften waren mit 1,0 % angegeben. 11,1 % gaben an, sich nirgendwo zugehörig zu fühlen, und 4,3 % machten keine Angaben.
Diese Ergebnisse sollten die Kirchen eigentlich positiv stimmen. Erstaunlich ist jedoch, dass nur gerade 10 % der Bevölkerung regelmässig am Gottesdienst teilnehmen. Der Glaube scheint für viele eher eine philosophische Idee oder eine allgemeine Weltanschauung zu sein. Diese Feststellung wird illustriert durch die Aussage eines prominenten Schweizers, der sich in einem Zeitungsinterview als nicht religiös bezeichnete. Er fügte jedoch hinzu: „Ich glaube nicht an Gott, aber an spirituelle Werte, die nicht rational erklärbar sind.“
Bereits 1993 hielt die religionssoziologische Studie "Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz" fest, dass zwar Religion für viele Menschen nach wie vor wichtig ist, dass diese aber "immer weniger einer von den kirchlichen Institutionen und deren Autoritäten festgelegten Ordnung" folgt. Aus Bestandteilen unterschiedlichster Herkunft schaffe sich der Einzelne mehr und mehr seine eigene "Patchwork-Religion". Die Publizistin Clara Obermüller beobachtete: „Spricht man mit Leuten, die sich in diesem modernen Sinn als religiös beziehungsweise als spirituell bezeichnen, stellt man fest, dass die meisten von ihnen Mühe haben mit einem personalen Gottesbegriff, dass sie mit religiösen Institutionen nichts mehr anzufangen wissen.“
Mit der fortschreitenden Globalisierung wird die Vermischung der religiösen Inhalte weiter zunehmen. Wir Menschen sehen uns dann, wie in einem Warenhaus, einer Vielfalt von Lebenshilfeangeboten gegenüber. Symbole und Rituale lösen sich von ihrem religiösen Ursprung, aber ihre Fähigkeit, das Unfassbare auszudrücken, bleibt dennoch erhalten. Diese Grundgültigkeit bestimmter Symbole und Rituale erklärt das kollektive Anzünden von Kerzen nach dem Anschlag auf den Madrider Bahnhof oder den grossen Publikumsansturm bei interreligiösen Feiern nach der Tsunami-Katastrophe.
Andere Entwicklungen in Europa und in der Schweiz zielen mehr und mehr auf einen evangelikalen Glauben nach amerikanischem Muster. Im Steigen begriffen sind Freikirchen wie die Filialen der „International Christian Fellowship (ICF)“ oder „Basileia“, die „einer bunten Partyreligion mit therapeutischem Anspruch frönen“, so der Journalist Michael Meier in einem Artikel über christlichen Fundamentalismus in der Schweiz.
Diese Glaubensrichtungen sind evangelikal ausgerichtet: sie fühlen sich einem Christentum zugehörig, das sich unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit auf die Bibel als Glaubensgrundlage beruft. Das Buch der Bücher gilt als das wahre und absolut verlässliche Wort Gottes, das klare Antworten auf die Fragen des Alltags liefert und einen ewigen Moralkodex beinhaltet.
Zurück zum Religiösen
Wo liegen die Gründe für die Rückkehr zum Religiösen? Klara Obermüller verbindet das Bedürfnis, Gott kennen zu lernen, mit der Suche nach Gemeinschaft, die in unserer globalisierten Welt an Bedeutung gewinnt. Der amerikanische Anthropologe Roger N. Lancaster bezeichnet den Trend hin zum Glauben mit einer „sich ausbreitenden Kultur der Verzweiflung, einem Sehnen nach der Wiederherstellung einer übergeordneten Autorität“ und mit dem “Anstieg – und Zusammenstoss – von Fundamentalismen.“ Für den Philosophen Gianni Vattimo liegen die Gründe in einer Wiederkehr des Verdrängten: "Indem der klassische Gedanke der Aufklärung geglaubt hat, er könne die ganze Religion mit einem Mal liquidieren, hat er nichts anderes getan, als sie ins Unterbewusste zu verdrängen." Den Wert der Religion sieht er u.a. in der Verinnerlichung von „gemeinsamen Verhaltensnormen, die man auch Kollektiv-Werte nennt“ Auch der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf geht diesen Fragen in seinem Buch „Die Wiederkehr der Götter“ nach. Für ihn macht die Religion die Bedrohlichkeiten des Lebens erträglich und liefert „etwas wie ein existenzielles Orientierungswissen, wodurch der Mensch gesellschaftliche Umbrüche und persönliche Schicksalsschläge bewältigt. (..) Der Glaube lebt fort, weil die chaotische Welt seiner bedarf.“
„Gott sehen“
Die Ausstellung „Gott sehen. Das Überirdische in der zeitgenössischen Kunst“ greift diese Entwicklungen auf. Gleichzeitig aber legt die besondere örtliche Situation der Ausstellungsräume die Auseinandersetzung mit dem Thema nahe, denn das Kunstmuseum des Kantons Thurgau ist in einem ehemaligen Kartäuserkloster beheimatet, dessen historische Räumlichkeiten - die Kirche, die Mönchszellen, der Kreuzgang u.a. - heute für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Spiritualität der Mönche, die über vierhundert Jahre lang die Kartause bewohnt haben, hat in den Klosterräumlichkeiten eine grosse Vielfalt bildnerischer Umsetzungen hervorgebracht , die heute noch Zeugnis eines tiefen Glaubens ablegen. Die Angehörigen des Kartäuserordens verfügten – und verfügen bis heute – über eine besonders ausgeprägte Affinität zur Spiritualität. Ihr Leben weihen sie schweigend „der Suche nach Gott in der Verborgenheit des Herzens“, (Text der Ordens-Webseite) . Das wichtigste Instrument für diese Suche war das Gebet, verbunden mit der selbst gewählten Einsamkeit in der Klause. Diese zwei Elemente sind noch heute die beiden Eckpfeiler des Kartäuserordens.
Seit 1848 leben in Ittingen keine Mönche mehr. Heute betreibt eine privatrechtliche Stiftung die Kartause als Seminarzentrum, mit Hotel, Restaurant, einer geschützten Werkstätte, zwei Museen und dem tecum, einem Projekt der evangelischen Landeskirche. Der Ort selbst erzählt jedoch nach wie vor von einem aussergewöhnlichen Willen zur Spiritualiät, der noch ganz im mittelalterlichen Denken verwurzelt ist, – eine Haltung, die viele Besucher und Besucherinnen gleichermassen irritiert wie fasziniert.
Kunst und Religion - eine schwierige Beziehung
Die Bereiche der Kunst und der Religion, die die Ausstellung „Gott sehen“ gleichermassen kennzeichnen, pflegen seit langer Zeit ein gespanntes Verhältnis. Bis weit in die Neuzeit hinein stand die bildende Kunst ganz im Dienst der Religion. Sie hatte die Aufgabe, die religiösen Inhalte in Bilder zu fassen, um die Lehre der Kirche allen Schichten zugänglich zu machen. Mit der Aufklärung „und ihrer Vorstellung, sich selbst zu emanzipieren, indem die Vernunft einen gottähnlichen Status erhält“ , trennte sich die Kunst von der Religion, sie wurde autonom. In einem Handbuch für die Freunde der christlichen Kunst war schon Mitte des 19. Jahrhunderts zu lesen: „Einer Kunst, die das ‚non serviam’, (ich diene nicht), so ungescheut als Losungswort nimmt, wird die Kirche sich auch nicht bedienen können.“ Heute ist die Kunst längst völlig säkularisiert. Die Beziehung zur Kirche ist zerbrochen. Der Kunstwissenschaftler und Theologe Johannes Rauchenberger schreibt dazu: „Die Trennung von Kunst und Kirche ist heute am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts so weit vorangeschritten, dass sie kein Thema mehr ist, so fremd ist man einander, so weit entfernt voneinander, ja so skurril scheinen die verschiedenen Baukörper und Lebensformen zu sein.“
Trotz der vollzogenen Autonomisierung der Kunst ist ihr aber die Aura des Göttlichen haften geblieben. Mittlerweile scheint sogar ein Rollenwechsel stattgefunden zu haben. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland schrieb 1993 in einem Memorandum zum Verhältnis der Kirche zur bildenden Kunst der Gegenwart: „Der Grund für das wachsende Interesse an der Kunst der Gegenwart liegt u.a. darin, dass man in den Kunstwerken einem unverbrauchten Angebot hinsichtlich der Fragen nach Sinn, Symbol, Mythos, Lebens- und Weltdeutung zu begegnen hofft. In Kreisen einer neuen Bildungsschicht wird der Umgang mit Kunst bereits zu einer Art Ersatzreligion, zumal die Kunstpräsentation, die Überhöhung von Künstlern und Ausstellungsmachern mitunter quasireligiöse Formen annehmen.“ Und Klaus Biesenbach, der Kurator der 2004 im Hygienemuseum Dresden durchgeführten Ausstellung „Die Zehn Gebote“, stellte fest: „Kunst hat parallel zu dem Bedeutungsverlust von Religion in vielen Bevölkerungsgruppen eine Rolle übernommen, der das Erhabene, Sublime, Wahre und Schöne, das Erhellende und Transzendente zugewiesen wird.“
Keine „christliche Kunst“
Seit ihrer Säkularisierung ging das Kunstsystem über lange Zeit zu religiösen oder kirchlichen Inhalten in Distanz. Der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes, der seit den siebziger Jahren die „SJ Kunst-Station Sankt Peter“ in der gleichnamigen Kirche in Köln kuratierte, war einer der ersten, der sich der Beziehung von Kunst und Kirche wieder annahm, ohne die Autonomie der Kunst in Frage zu stellen. Er meinte in einem Interview: „Kunst und Religion habe ich immer getrennt. Das ist mir ganz wesentlich. (...) Sie (die Kunst) ist autonom geworden. Seither gibt es einen ziemlichen Bruch zwischen Kirche und Kunst. Dieser Bruch wird deutlich, indem man in eine Kirche geht und feststellt, dass es dort weiterhin keine Kunst gibt (...) Kunst ist kein Einrichtungsgegenstand. Kunst ist für mich ein Gegenstand der Auseinandersetzung, nicht der Schmückung.“
Christlich religiöser Kunst wird denn auch oft der Vorwurf gemacht, sie diene der reinen Dekoration religiöser Inhalte. Das Etikett „christlich“ scheuen die Kuratierenden wie der Teufel das Weihwasser. In den meisten Ausstellungen, die sich in den achtziger und vor allem Ende der neunziger Jahren mit religiösen Inhalten auseinandersetzten, ging es ausdrücklich nicht um so genannte christliche Kunst. Johannes Rauchenberger zieht aus dieser Feststellung den Schluss: „Strittig ist Kunst mit dem Etikett „christlich“, nicht die „Religion in der Kunst“.
Religiöse Motive ohne religiöse Inhalte
Dabei hat sich die autonome Kunst oft und gerne mit religiösen Motiven auseinandergesetzt. Die meisten Werke entstanden aber ausserhalb der alten Beziehung, nicht im Dienst der Kirchen, sondern als Werk in Zusammenhang mit ästhetischen Fragestellungen. Die bevorzugten Motive (das Kreuz, die Passion, Pieta usw.) entstammen einer über Jahrhunderte dauernden Prägung der kulturellen Identität durch die Religion, die eine grosse Vielfalt ikonografischer Motive hinterlassen hat. Viele Werke greifen heute deshalb auf die Bildtradition religiöser Inhalte zurück, ohne explizit religiöse Inhalte zu vermitteln. Die Ausstellung „Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen“, die anlässlich des ersten ökumenischen Kirchentages 2003 in Berlin stattfand, untersuchte etwa „anhand ausgewählter Werke von internationalen Künstlern die heutige Virulenz christlicher Motive und Bildvorstellungen in den visuellen Künsten, ohne explizit deren religiösen Gehalt aufzusuchen oder gar per se zu unterstellen.“ Dies führte auch zu Kritik: „Das Ganze ist eine attraktive und äußerst unterhaltsame Zusammenstellung ganz verschiedener Arbeiten, die alle irgendwie mit dem Menschen und manchmal – zumindest im Titel – auch mit Religion zu tun haben. Doch welche Kunst hat das nicht?“
Die Frage spricht ein Thema an, das immer wieder zu Beanstandungen von zeitgenössischen Ausstellungen mit religiösen Themen führt: der Vorwurf der Beliebigkeit. Dies rührt daher, dass Kunstwerke in Ausstellungen mit religiösen Themen immer noch an früheren Massstäben - an der bildlichen Umsetzung und Dekoration kirchlicher Inhalte - gemessen wird. Die künstlerischen Denk- und Produktionsweisen haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch massiv verändert. Künstlerinnen und Künstler wenden sich heute auch Themen aus dem Bereich des Alltags, der persönlichen Lebens- und Arbeitsumstände, gesellschaftlicher Phänomene und den existentiellen Befindlichkeiten des menschlichen Individuums zu, und das Kunstsystem legt vermehrt soziale und politische Inhalte und Fragestellungen als Beurteilungskriterien an Kunst an. Verbindungen zeitgenössischer Kunstwerke mit religiösen Themen sind deshalb nahe liegend, denn beide Bereiche beschäftigen sich mit unserer Wahrnehmung und verbildlichen elementare, existenzielle gesellschaftliche Themen wie Geburts- und Todeserfahrungen, Leiden, Gewalt, Glück, Liebe, Hoffnung, Ethik und Moral, Opfer, Magie, Gewalt, Sexualität, Wirklichkeit und Fiktion oder das Unerklärliche.
Das Überirdische als Thema der zeitgenössischen Kunst
Wenn also, wie Eingangs festgehalten, das Religiöse in unserer Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, so darf es nicht erstaunen, dass das Überirdische selbst zum Thema von Ausstellungen wird. In den letzten Jahren wurden denn auch mehrere Projekte mit religiösen Themen lanciert. Ausstellungen wie „Seven Sins“ im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, Bozen, oder „Himmelschwer. Transformationen der Schwerkraft“ im Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz, fallen in diese Zeit, in der „Künstler, Kuratoren, ja selbst Galeristen ihre Augen vermehrt gen Himmel richten“, wie eine Kritikerin ironisch bemerkte. Ein viel besprochenes Beispiel ist die 2004 eröffnete Ausstellung „Die Zehn Gebote“ im Hygienemuseum Dresden, die den Dekalog ins Zentrum stellte und nach der aktuellen Bedeutung dieses ethischen Verhaltenskodex’ fragte. Der Kurator Klaus Biesenbach wählte zu diesem Zweck Werke von 69 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern aus, mit denen er die Besucher konfrontierte und sie aufforderte, „die Gültigkeit tradierter ethischer Werte zu hinterfragen.“
Auch die Ausstellung „100 Artists see God“, gehört in diese Gruppe. Das Projekt, das von den Kunstschaffenden John Baldessari und Meg Cranston initiiert wurde und momentan auf weltweiter Tournee ist, startete 2002. Es hatte einen konkreten Auslöser: „The date is significant: we began this project six months after the bombing of the World Trade Center in New York.“ Die beiden Künstler registrierten damals, dass Zeitungen, Magazine, Fernsehen und Radiokanäle voll von Artikeln über Gott waren: „God was everywhere“ und, so fügen sie bei, „Artists were uncharacteristically silent“. Diese Feststellung brachte sie dazu, Gottesbilder zum Thema ihres Ausstellungsprojekts zu machen. Ihr Vorgehen war anders als in „Die Zehn Gebote“. Sie fragten Kunstschaffende nach ihrer Vorstellung von Gott, und baten sie um ein Werk, dass für sie in einem Zusammenhang dazu steht. „We selected the artists because we were fans of their work, not because they had necessarily ever done an artwork about god. Some had, some had not. We selected artists we thought might be up to the challenge, and some practical restrictions aside, we decided we’d take what we got.” Diese zwei Beispiele jüngst durchgeführter Ausstellungen belegen, – stellvertretend für weitere Projekte – dass heute von Seiten der Kunst aktiv auf das Religiöse zurückgegriffen wird.
Überlegungen zur Ausstellung
Im Projekt „Gott sehen“ wurden die Vorgehensweisen beider oben angesprochenen Ausstellungen zur Anwendung gebracht. Einige der Kunstschaffenden wurden gebeten, sich zur Frage „Wie stellst Du Dir Gott vor?“ oder „Was für Überlegungen verbindest Du mit dem Gedanken an eine höhere Instanz?“ bildnerisch zu äussern. Adel Abdessemed, Carla Ahlander, Gernot Wieland, stöckerselig, San Keller, Till Velten, Christof und Markus Getzner, Hendrikje Kühne & Beat Klein sowie Zelijka Marusic & Andreas Helbling haben sich dieser Aufforderung gestellt und präsentieren ihre Arbeiten zum Thema. Die Resultate sind höchst unterschiedlich: Der Bogen reicht von Imaginationen über Recherchen zum Überirdischen bis zu bildlichen Umsetzungen und zeitkritischen Überlegungen. „Gott“ oder „das Göttliche“ werden dabei übersetzt mit Spiritualität, Sinngebung, Kirche, Religion, Schöpfung oder existenziellen Fragen generell. Die thematische Ausrichtung der Arbeit bleibt bei dieser Form der kuratorischen Tätigkeit letztlich ein Entscheid der Künstlerin oder des Künstlers.
Eine zweite Gruppe von Künstlern präsentiert Werke, die bereits existieren, aber mit dem Thema eng verknüpft sind: Franz Huemer, Richard Phillips, Valérie Mréjen, Constantin Khudyakow, Duane Michals, Usine de Boutons, Jan Mancuska, Daniel Gallmann, Huang Yong Ping, Adam Chodzko und Richard Grayson haben das Überirdische in ihrem Werk unabhängig von der geplanten Ausstellung, thematisiert. In dieser Gruppe erfolgte die Auswahl der Themen, respektive der Arbeiten, durch die kuratierende Person.
Eine dritte Gruppe schliesslich umfasst Künstlerinnen und Künstler, die um eine bestimmte bestehende Arbeit gebeten worden waren, aufgrund des Themas der Ausstellung aber eine andere Arbeit vorschlugen (Louise Bourgeois, Justine Kurland) oder gar ein neues Werk herstellten (Pawel Althamer, Barthélémy Toguo).
Mit diesen unterschiedlichen Strategien der Auswahl wird keine Objektiviät angestrebt, geschweige denn eine politisch, kulturell und geografisch korrekte Zusammensetzung der Kunstschaffenden. Andere Überlegungen leiteten die Wahl der Künstlerinnen und Künstler: Da ist zum einen das Vertrauen in bestimmte Künstlerinnen und Künstler, sich auf ein bestimmtes Thema und eine vorgegebene örtliche Situation einzulassen und quasi als Katalysatoren der Gesellschaft eigene Gedanken, Ideen und Vorstellungen bildnerisch umzusetzen. Dies betrifft jene Kunstschaffenden, die mit der Frage nach ihrer Assoziation des Göttlichen konfrontiert wurden. Bei einzelnen Künstlerinnen und Künstler war es dann auch durchaus wichtig, dass sie einem bestimmten kulturellen oder religiösen Umfeld entstammen, und dies in ihrer Arbeit thematisieren. Ein Beispiel dafür ist der Algerier Adel Abdessemed, der aus dem Maghreb stammt, heute in Frankreich lebt und immer wieder religiös-kulturelle Fragen ins Zentrum seiner Arbeit stellt. Ein anderes Beispiel ist der Moskauer Constantin Khudyakow, dessen Arbeit stark in der Tradition der russisch-orthodoxen Ikonenmalerei verhaftet ist. Eine dritte Gruppe von Kunstschaffenden zeichnet sich dadurch aus, dass ihre künstlerische Betätigung stark in ihrer eigenen Spiritualtiät verhaftet ist und mit ihren persönlichen Erfahrungen eine untrennbare Einheit bildet. Der Aussenseiterkünstler Franz Huemer, der sich seine private Mythologie erschaffen hat, die Brüder Christof und Markus Getzner, von denen der eine als ordentlicher Mönch im buddhistischen Kloster lebt und die Vergänglichkeit zum Hauptinhalt seiner Werke macht, oder Daniel Gallmann, der seit Jahren auf der Suche nach einem Urbild des Göttlichen ist, erweisen sich als Schöpfer von eigenständigen Lebens- und/ oder Glaubensentwürfen, in denen der Übergang von Kunst und Leben fliessend ist. Einen weiteren Akzent setzen Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die auf das Religiöse als gesellschaftliches Phänomen reagieren. In diese Gruppe gehört etwa Richard Graysons Projekt „Messiah“, der sich mit dem amerikanischen Fundamentalismus auseinandersetzt, die Arbeit von Justine Kurland, die nach dem 11.September 2001 Angehörige utopischer Gemeinschaften in den USA porträtierte, oder die (fiktiven) Software-Kits zum schnellen Wechseln der Religion von Usine de Boutons.
Zuguterletzt interessieren auch Werke, die das „Gottesbild“ in unserer Wahrnehmung selbst thematisieren. Richard Phillips’ „Portrait of God (after Richard Bernstein), Adam Chodzkos Bilder-Sammlung von Menschen, die glauben, wie Christus auszusehen, oder Pawel Althamers Inszenierung einer Christus-Darstellung gehören in diese Gruppe.
Die Ausstellung versteht sich so als eine Plattform verschiedenster Ansätze, Ideen und Hinweisen zum Thema des Überirdischen. Die einzelnen Werke fordern das Publikum auf, sich mit Gottesbildern und heutigen Glaubensvorstellungen auseinanderzusetzen und eigene Betrachtungsweisen zu hinterfragen.
Diese zeitgenössischen Positionen werden über heutige religiöse Ansichten zur Spiritualität in den historischen Ort eingebunden. Sieben Personen verschiedener Glaubensrichtungen wurden eingeladen, über ihr persönliches Bild von Gott zu sprechen. Die Äbtissin eines Zisterzienserinnenklosters etwa beschreibt im barocken Chorgestühl der Kirche Formen des Gebets zu Gott. Der Imam einer benachbarten albanischen Gemeinde singt im Kreuzgarten des Klosters eine kurze Sequenz aus einer Sure des Korans und ein indischer Ernährungswissenschaftler spricht in der reich bebilderten Sakristei vor einem christlichen Dreifaltigkeitbild über Gott und Götter im Hinduismus. Die aufgezeichneten Gespräche können während der Ausstellung ebenfalls per Audioguide abgerufen werden.
Einen weiteren Zugang zur Ausstellung öffnet schliesslich die vorliegende Publikation. In ihr werden die Projekte der Künstlerinnen und Künstler einzeln beschrieben und erläutert. Zwei Texte befassen sich mit zusätzlichen Aspekten des Themas: Der Kunsthistoriker Johannes Stückelberger thematisiert die Entwicklung der Gottesbilder in der westlichen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, und Kapuzinerpater Dietrich Wiederkehr gibt einen kurzen Abriss der Geschichte des Gottesbildes aus der Sicht der Theologie wieder.
„Gott sehen“ steht als Ausstellung, die das Religiöse thematisiert, nicht allein. Eine Besonderheit zeichnet dieses Projekt aber vor allen anderen aus: Der starke inhaltliche und räumliche Bezug zum Ort und seine Einbindung in die Ausstellung erleichtern den Zugang und legen – dem Publikum und den Kunstschaffenden – eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema nahe. Die Geschichte der Kartause und ihrer Bewohner, die Bilder, die aus einer Zeit stammen, in der die Kunst noch ganz in ihrer traditionellen Rolle verhaftet war, sorgen für ungewohnte Zusammenhänge und überraschende Erkenntnisse. Dadurch gelingt eine umfassendere, vertiefte Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst.