Gasser, Martin
1 Film entwickeln, 3 Kopien, 1 Wunderbalsam
zu Adolf Dietrichs Fotografien
Text: Publikation "Adolf Dietrich. Fotografien", Verlag Benteli, Bern 2007 Martin Gasser
Malerei und Fotografie im Dialog
Wechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie gibt es, seit sich dieses erste mechanische Bildmedium ab 1840 rasant vorerst in Frankreich, darauf in England und der übrigen Welt verbreitete. Sofort verschrieb sich eine Vielzahl von Künstlern ganz der Fotografie und setzte sich für ihre Akzeptanz im jährlich in Paris stattfindenden Salon des Beaux-Arts ein – was ihnen jedoch nicht gelang. Andererseits waren es etablierte Künstler, die sich des Mediums meist im Verborgenen bedienten, d.h. Fotografien als Studienobjekte und Malvorlagen einsetzten. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür liefert Eugène Delacroix, der den Fotografen Eugène Durieu beauftragte, für ihn Aktaufnahmen anzufertigen, nach denen er ausgiebig skizzierte und malte. Aber auch viele andere, etwa Jean-Dominique Ingres, Gustave Courbet oder Edgar Degas, benutzten fotografische Vorlagen, orientierten sich am fotografischen Blick anderer oder fotografierten sogar selber. Dass sich Fotografen ihrerseits von der Malerei beeinflussen liessen, etwa Adolphe und Eugène Cuvelier von den Malern der Schule von Barbizon oder spätere Piktorialisten wie Alfred Stieglitz und Heinrich Kühn von den deutschen Impressionisten, ist quasi die Kehrseite der Medaille. Von praktisch allen diesen Wechselwirkungen, welche die Kunst- und Fotografiegeschichte bis in die heutige Zeit gleichermassen prägen, wissen wir spätestens seit der Ausstellung "The Painter and the Photograph", die Van Deren Coke 1964 in der Kunstgalerie der Universität von New Mexiko veranstaltete und der umfassenden Publikation „Art and Photography“, die 1968 von amerikanischen Kunsthistoriker Aaron Scharf publiziert wurde. Diese eher im angelsächsischen Raum bekannten Aufarbeitungen des Themas Kunst und Fotografie fanden ihre unmittelbare Nachfolge in einer grossen Ausstellung im Stadtmuseum München mit dem Titel "Malerei nach Fotografie. Von der Camera Obscura zur Pop Art" an welche 1977 Erika Billeters Ausstellung "Malerei und Photographie im Dialog" im Kunsthaus Zürich anknüpfte. Diese Ausstellung und ihr gewichtiger Katalog führten das Thema endgültig und nachhaltig auch in der Schweiz ein, was zahlreiche Publikationen und Ausstellungen zu Schweizer Künstlern, in deren Werk die Fotografie eine entscheidende Rolle spielte, zur Folge hatte.
Auf Adolf Dietrichs fotografisches Werk wurde man jedoch erst 1994 im Zusammenhang mit der Herausgabe seines Werkverzeichnisses und der Ausstellung "Adolf Dietrich. Seine Themen. Sein Leben" aufmerksam. Erst dann begann man, sich für die Bedeutung von Dietrichs Fotografie für seine Kunst und als eigenständiges Ausdrucksmittel zu interessieren. Nicht dass Dietrich zu Lebzeiten speziell auf seine Fotografien verwiesen hätte – im Gegenteil. Er hat nie über sie gesprochen, hat sie schon gar nicht propagiert, ja, sie eher versteckt (wie andere Künstler). Man hat ihn jedoch offensichtlich auch nie danach gefragt, sich nicht dafür interessiert. Einzig Lydia Ilg erinnerte sich, wie Adolf Dietrich auf seinen Spaziergängen oft seine Kamera mit Schwarzweissfilm dabei hatte, nebst einem Notizbuch, in dem er die Farben der Motive notierte. Doch auf keiner der unzähligen Fotos, die von Adolf Dietrich über die Jahre gemacht wurden, ist er mit einer Kamera zu sehen. Nur auf den Bildern, die Helga Lutz wenige Jahre vor seinem Tod anlässlich eines Besuches mit ihrem Vater machte, sieht man, wie Dietrich seine Fotografien achtlos, zwischen den Resten des Mittagessens, vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat.
Die Kunstgeschichtsschreibung hatte lange Zeit Mühe, sich mit der Fotografie angemessen auseinanderzusetzen. Erst in den 1920er Jahren, als Künstler der Avantgarde wie Lászlo Moholy-Nagy, Man Ray oder El Lissitzky intensiv mit Fotografie arbeiteten, sie sogar als das Bildmedium der Zukunft propagierten, begannen fortschrittliche Kunsthistoriker darüber nachzudenken. Einer der ersten war Franz Roh. , In seinem für die Kunst der Neuen Sachlichkeit wegweisenden Buch „Nach-Expressionismus“ (1925) widmete er der Fotografie ein ganzes Kapitel. Roh sieht eine direkte Beziehung zwischen der Fotografie und der "Freude an genauer Sicht und an der Wirklichkeit", wie er sie in der neusten Kunst in Europa zu erkennen glaubt: "So sagen die Jüngsten, das Skizzenbuch des kommenden Landschafters, so weit er Material sammle, etwa auf Reisen das Gelände durchstreife, sei der Fotografenkasten." Ja, der Fotoapparat sei nicht nur als "Sammler eines Motivschatzes" zu gebrauchen, sondern eine Fotografie könne sogar als eigentlicher Malgrund dienen, den der Künstler dann nur noch "retouchieren" müsse. Roh geht noch einen Schritt weiter, indem er der Fotografie ein eigenständiges Kunstpotenzial zumisst, und zwar nicht aufgrund künstlerisch-subjektiver Interpretation oder Gestaltung, sondern aufgrund etwa der Wahl des "ausdrucksgesättigten Objekts", der "Begrenzung des Ausschnitts" und des "Sehwinkels". Bereits dadurch könnten "eindrucksgesättigte, hinreissende, spezifische Bildwirkungen entstehen." Er sieht darin ein direktes Wiederanknüpfen an das erste, primitive fotografische Verfahren der Daguerreotypie, mit dem sich die Natur quasi selbst abbildete, ja sich selbst vollkommen scharf und mit fast dreidimensionaler Wirkung in einer Art Spiegel mit Gedächtnis festhielt, ohne jegliche gestaltende Handarbeit eines Künstlers.
Neben Franz Roh, der seit den frühen 1920er Jahren selbst fotografierte und sich bis in die 60er Jahre theoretisch mit der Fotografie auseinandersetzte, interessierte sich auch Herbert Tannenbaum, Adolf Dietrichs Händler und Mentor in Mannheim, der ihn wahrscheinlich zum Fotografieren inspiriert hatte, schon früh für die Fotografie. Er war nämlich nicht nur ein äusserst offener Kunsthändler, sondern vor allem auch einer der ersten Filmtheoretiker. Zudem war er Mitglied des Deutschen Werkbunds, Amateurfotograf und ernsthaft an der künstlerischen Fotografie interessiert – unter anderem hielt er bereits 1918/19 einen Vortrag zu diesem Thema und war mit Hugo Erfurth bekannt, einem der damals angesehensten Fotografen, dessen Porträtwerk er 1929 in einer Ausstellung in seinem Kunsthaus in Mannheim zeigte.
Adolf Dietrichs Malerei ist schon damals in Beziehung zur Kunst der Neuen Sachlichkeit rezipiert und diskutiert worden – Franz Roh schrieb ja schon 1926 in diesem Kontext über Dietrich als Laienkünstler , doch auch Dietrichs Fotografien lassen sich damit in Verbindung bringen. "Dietrich malt seine Umgebung ab, gewissenhaft wie ein Spiegel, der nur zuweilen nicht ganz im richtigen Winkel zu den Objekten steht", schrieb ein Kritiker 1922 Diese Aussage könnte ebenso gut für seine Fotografien gelten, sowohl jene, die er im Sinn des „Motivschatzes“ brauchte, als auch jene, die heute als autonome fotografische Werke gelten, da keine malerische Umsetzung bekannt ist. –.
Adolf Dietrichs Fotografien
Nebst dem wachsenden Interesse der künstlerischen Avantgarde und einer kleinen Gruppe fortschrittlicher Kunsthistoriker , Museumskuratoren und Galeristen, drang in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die Fotografie, wie auch das Medium Film, in das Bewusstsein einer immer breiteren Öffentlichkeit. Umfangreiche Ausstellungen wie "100 Jahre Lichtbild" (1927), "Photographien Albert Renger-Patzsch" (mit dem wegweisenden Buch "Die Welt ist schön", 1928) oder die Wanderausstellung des Deutschen Werkbunds "film und foto" (1929) wurden mit grossem Erfolg von Schweizer Museen gezeigt. Daneben erschienen immer mehr Fotografien in Zeitschriften wie der weit verbreiteten "Schweizer Illustrierten", der renommierten "Zürcher Illustrierten" (die unter der Leitung Arnold Kübler ab 1929 zum wichtigsten Schweizer Medium der neuen Reportagefotografie avancierte), aber auch in einer Menge kleinerer Publikationen, zu denen Familien-Wochenblätter wie "Leben und Glauben" oder "Der Sonntag" gehörten, die mehr oder weniger regelmässig auch in Adolf Dietrichs Haushalt in Berlingen aufgetaucht sein dürften. Nicht nur Dietrich, sondern auch andere Maler liessen sich in genau dieser Zeit zur Fotografie inspirieren. Als Beispiel wäre der in München ausgebildete Gotthard Schuh zu nennen, der bis Anfang dreissiger Jahre noch als Maler ausstellte, bevor er dann zu einer eigentlichen Galionsfigur der neusachlichen Fotografie in der Schweiz wurde. Es gab aber auch eine rege Amateurfotografenszene, deren ambitionierte Fraktion ihre Bilder selbst entwickelte – vorzugsweise noch in einem traditionellen Edeldruckverfahren. Die wirklichen Laien unter ihnen frequentierten die unzähligen kleinen Fotografengeschäfte oder Apotheken und Drogerien, deren Angestellte ihre Filme entwickelten und die als gelungen befundenen Bilder im Standardformat, mit oder ohne Büttenrand, kopierten. Zu genau diesen fotografischen Laien gehörte auch Adolf Dietrich, der sich mit seinen entwickelten Filmen und Kopien mitunter gleichzeitig Magenpulver, Nerventabletten oder Wunderbalsam schicken liess – per Nachnahme, wohl verstanden.
Franz Roh schrieb: "Dietrichs Malerei rechnet zur Laienkunst, wenn man damit feststellen will, dass sie, ohne eigentliche Schulung, und ohne daraus Berufsarbeit zu entwickeln, liebenswertes Erzeugnis allein der inneren Passion blieb." Dies kann auch für Dietrichs Fotografie gesagt werden: Er war tatsächlich völlig ungeschult in Sachen Fotografie – wenn man von den gelegentlichen Anweisungen seinen Neffen Heinrich absieht, der anfänglich seine Filme entwickelte. Auch das von Heinrich empfohlene Lehrbuch für Amateure mit dem Titel "Was viele Photographierende nicht wissen" scheint Dietrich kaum konsultiert zu haben. Dietrich kämpfte immer wieder mit Belichtungsproblemen, und auch der "Brillantsucher" seiner 6x9 cm Rollfilmkamera Marke Voigtländer "Bessa" (Jahrgang 1929), die er zur Hauptsache benutzt haben dürfte, machte ihm zu schaffen. In diesem Sucher, der sich bei Bedarf in eine Hoch- oder Querformatstellung kippen liess (sein Neffe hatte ihn speziell darauf hingewiesen) , war das Motiv nur sehr klein und nicht bis an die Ränder des Bildformats sichtbar, was die genaue Ausschnittbegrenzung erschwert haben musste.
Auch war es schwierig, die „Bessa“ aufgrund des Sucherbildes im Lot zu halten, was dazu führte, dass in vielen von Adolf Dietrichs Aufnahmen der Horizont leicht schief ist (wenn dieser Umstand nicht zum Teil beim Kopierprozess korrigiert wurde), was den Bildern oft eine eigenartige, aber ungewollte Dynamik verleiht. Sie ist Ausdruck einer Unbeholfenheit, wie sie auch in Dietrichs gemalten Bildern wahrgenommen wurde: Er fotografierte zwar gewissenhaft, nur hielt er eben zuweilen seinen Apparat (Spiegel) „nicht ganz im richtigen Winkel zu den Objekten“. Die "Bessa" war noch nicht mit einem seitlichen Rahmensucher ausgestattet und musste deshalb immer mit einer Armlänge Distanz vom Auge vor dem Bauch gehalten werden. Fotografiert wurde mit gesenktem Kopf und Blick nach unten auf den „Brillantsucher“,. Dietrich schien dieser umständlichen Klappkamera während vielen Jahren treu geblieben zu sein, vielleicht weil die Art, wie er mit ihr fotografierte, ganz seiner üblichen Arbeitsweise als Zeichner und Maler entsprach: sitzend, mit einem Skizzenblock auf den Knien oder über seinen Malkarton gebeugt – wie es auf verschiedenen Fotografien sichtbar ist (ills).
Trotz der Schwierigkeiten, die Dietrich mit seiner Kamera hatte – oder gerade deswegen – und dank seiner technischen Unvoreingenommenheit und vielleicht auch Naivität fotografischen Bildern gegenüber, entstanden über die Jahre eine grosse Anzahl "eindrucksgesättigte, hinreissende" Fotografien, "liebenswerte Erzeugnissse" einer inneren Passion, wie es Franz Roh gesagt hätte, die auch heute noch faszinieren. Dazu gehören neben den zahlreichen Fotografien der Unterseelandschaft in den verschiedensten Stimmungen etwa Bilder des gefrorenen Seeufers, die nicht nur die bizarre Kraft einer "Seegfrörni" augenfällig machen, sondern darüber hinaus das Gefühl einer neuen Eiszeit suggerieren (ill.). Ein ähnlich frostiges Gefühl vermitteln die Aufnahmen, in deren Vordergrund ein Gewirr von zwischen schrägen Pfählen gespannten Stacheldrähten den Zugang zum See (und zum offenen Bildraum) versperren (ill.). Es sind beunruhigende Bilder der Schweizer Grenze am See, aufgenommen während der Kriegsjahre, die eine grosse Leere und Einsamkeit evozieren. Im Gegensatz dazu das Bild der Heuerin, die ruhig ihrer Arbeit nachgeht, beobachtet von einer Frau, die unter einem schattigen Baum zwei Kinderwagen hütet: die perfekte Idylle diesseits der Grenze (ill.).
Auch im Dorf gelingen Dietrich aussergewöhnliche Bilder von Orten, oder besser Nicht-Orten zwischen den Häusern, die, vor allem wenn sie sich schneebedeckt zeigen, eine geheimnisvolle Ruhe ausstrahlen (ill.). Selten geht Dietrich den lauten Ereignissen nach, lieber hält er sich auf Distanz, beobachtet mehr die gaffenden Leute als das Ereignis selbst. Ausser an der Chilbi. Da schaut er nicht nur aus dem Fenster oder späht im Schutz einer Hauswand aufs lebendige Treiben, sondern mischt sich unters Publikum und hält mit seiner Kamera etwa den Betrieb der Leute um ein Karussell oder ein Paar auf einer schwingenden Schifflischaukel fest (div. ills.). Ähnlich fotografiert er das tosende Wasser des Rheinfalls, vorbeifahrende Velofahrer oder einen Reisecar, den er gerade noch erwischt, bevor er aus dem Bildfeld rast (ills.). Er folgt der Bewegung nicht, sondern bleibt ruhig stehen – wie in der Gebrauchsanweisung zur „Bessa“ empfohlen – und lässt sie an sich vorbeihuschen.
Nur wenn Dietrich Leute aus dem Dorf oder andere ihm bekannte Personen für sich posieren lässt, wagt er sich auch an Menschen ganz nahe heran. Dabei gelingen ihm ausdrucksstarke Porträts etwa eines stolzen Entenjägers am Seeufer (ill.), oder das Bild einer sichtlich fröstelnden Frau ohne Mantel auf einer verschneiten Dorfstrasse – vielleicht dauerte die Prozedur doch länger, als sie erwartet hatte (ill.). Nicht weniger eindrücklich ist das Porträt eines riesigen, gefangenen und perfekt senkrecht ins Bild gesetzten Hechts, neben dem der ihn stolz präsentierende Fischer mehr zu hängen als zu stehen scheint (ill.). Aussergewöhnlich auch die Szene, in der sich eine schwarzweisse Katze an einem auf dem Boden platzierten Korb vorbeidrückt als sähe sie den leckeren Fisch darin nicht – ein Bild, das jedem professionellen Reportagefotografen zur Ehre gereicht hätte. Dietrich hat ein Auge für beides, das wichtige Dorfereignis und die nebensächliche Szene, doch auch beides nur sporadisch. Es ergibt sich, wenn es sich ergibt. Nichts scheint geplant oder verlangt zu sein. Dietrich kann deshalb kaum zu jenen eigentlichen Dorffotografen gezählt werden, die in den letzten Jahren an verschiedenen Orten in der Schweiz entdeckt wurden.
Als eigentliche Bühne für eine ganze Reihe von aussergewöhnlichen Porträts benutzt Dietrich den Holzsteg hinter seinem Haus, auf dem ihn Herbert Tannenbaum schon Mitte der zwanziger fotografiert hatte. Der Steg über dem Wasser wird zu seinem Feilichtstudio, in dem er seine Modelle sich mit ernster Miene präsentieren oder spielerisch inszenieren lässt (div. ills.). Wie in den Porträtfotografien des 19. Jahrhunderts die dekorativen Tischchen und Säulen, geben die Pfosten und Latten des Stegs den Modellen Halt – einen trügerischen zwar, wie bei genauer Betrachtung unschwer zu erkennen ist. Die unterschiedlichen Menschen, die uns ungeschminkt, kostümiert oder sonntäglich herausgeputzt aus Dietrichs Bildern ansehen, strahlen viel vom damaligen Lebensgefühl der Menschen in Berlingen aus. Sie erzählen aber auch von den sozialen Unterschieden zwischen den Einheimischen und den Besuchern aus der Stadt, die dem Kunstmaler Adolf Dietrich ihre Aufwartung machten. Obwohl sie in ihrer Art gänzlich verschieden sind, erinnern diese Porträts stark an die zahlreichen Bilder, die Ernst Ludwig Kirchner von seinen Besuchern auf der Veranda seines abgelegenen Wohnhauses auf dem Wildboden bei Davos machte.
Der Hauptgrund, warum Dietrich seine Modelle vor allem draussen porträtierte, war ein technischer: weil drinnen weniger Licht vorhanden war, wären die Belichtungszeiten zu lang gewesen (sein Neffe warnte ihn davor) . Es gibt deshalb nur relativ wenige Innenaufnahmen von Personen, die Dietrich fast alle direkt am Fenster aufnahm. Dazu gehört die fast archetypische Szene mit der jungen Frau, die über die Geranien auf dem Fensterbrett hinweg nach draussen schaut, als erwarte sie jemanden. Als fast surreales Gegenstück dazu das wunderbare Bild einer Kaktuspflanze, die sich, aus einem Topf auf einer „V.S.K.“-Kiste stehend, dem Fenster und damit dem Licht zuneigt (ill.).
Überhaupt ist das Fenster nicht nur in Dietrichs Malerei, sondern auch in seinen Fotografien immer wieder ein Thema. Oft fotografiert er aus dem Fenster auf die Strasse – manchmal unbemerkt von den Passanten, manchmal schauen sie zu ihm hinauf (ill.). Und immer wieder richtet er seine Kamera auf den gegenüberliegenden Garten, den er so oft gemalt hat, betrachtet ihn einerseits, wie er sich im Laufe der Jahreszeiten über die Jahre verändert – quasi der Blick des alternden Künstlers auf die Welt. Andrerseits versteckt er sich wie ein Voyeur hinter seinen Pflanzen auf dem Fensterbrett und beobachtet das Leben, das sich im Garten abspielt: von der Gartenarbeit der Nachbarn über das Spielen der Kinder bis zu fast märchenhaften Erscheinungen von weiblichen Wesen im weissen Kleid oder Bikini (ills.). Es sind eigentliche „Schnappschüsse“ aus der erhöhten Position des Stuben- oder Dachfensters. In diesem Sinn erinnern diese Fotografien an die Strassenbilder des Bildhauers Karl Geiser, die bei ihm aber besonders in der Form der bewusst gestalteten Archivbogen einen eigenständigen künstlerischen Ausdruck erreichen. Im Gegensatz dazu lässt sich in Dietrichs einzigem Album, in dem er einige seiner Bilder einklebte, kein gestalterischer Wille erkennen: keine narrative Serie, keine assoziativen Gegenüberstellungen, nur ein einfacher Raster, aus dem er vereinzelt und mehr oder weniger zufällig ausbricht.
Sehen ist Leben
Das fotografische Bild als solches, der schöne Abzug, scheint Dietrich überhaupt nicht zu interessieren. Nicht von einer einzigen seiner Aufnahmen liess er eine Vergrösserung herstellen. Die kleinen, standardisierten, neutralgrauen und glänzenden Drogistenbildchen, die ihm per Post zugesandt werden, genügten ihm vollends. Sie entsprechen in diesem Sinn ganz einer neusachlichen Ästhetik, wie sie Franz Roh in der Kunst ("ohne Gewebe des Strichs, der Faktur") und in der Fotografie erkannte: "wo alles 'Temperament', aller Herstellungsprozess völlig ausgetilgt sein und der Kunstkörper glatte Objektivation bedeuten soll. Wo [...] es als Schimpf gelten würde, dass man künstlerische 'Handschrift' irgendwie spüre [...]".
Doch wie beim Malen hat Adolf Dietrich auch beim Fotografieren kein ästhetisches Programm im Kopf. Er fotografiert unbelastet, intuitiv und deshalb auf eine Art, die ganz dem "Wesen" der Fotografie – das ebenfalls in den zwanziger Jahre diskutiert wurde – entsprach.
Das Fenster (wie sein Gegenstück der Spiegel) kann auch als eine Metapher für das "Wesen" Fotografie gelesen werden. Deshalb sind die aus dem Fenster aufgenommenen Bilder vielleicht Dietrichs fotografischste Arbeiten. Sie thematisieren den Blick von drinnen nach draussen, mit dem Fenster als fotografische Linse und der Stube oder dem Dachboden dahinter als „camera obscura“, als Dunkelkammer. Damit wird Dietrichs Haus gleichsam zum „Fotografenkasten“, in dessen dunklem Innern der Künstler arbeitet – von innen nach aussen.
Wenn sich Dietrich also aus dem Fenster lehnt (ill.???), oder mit seiner Kamera durch die Umgebung streift, dann will er sehen, nur sehen. "Sehen ist leben", wie es auf zahllosen Negativtäschchen der Firma Hepp in Konstanz steht, in denen Dietrich seine Bilder aufbewahrte. Obwohl Dietrich die vor ihm liegende Realität ab-fotografiert – wie er andere "Vor-lagen" abmalt – , folgt er inneren Bildern, die sich schon viel früher gefestigt haben; es sind Bilder einer Welt, die er seit seiner Kindheit wie seine eigene Westentasche kennt: Die Landschaft des Untersees, Berlingen und seine Umgebung, die Menschen aus dem Dorf . Er braucht die Fotografie nicht, um neu zu sehen, oder sehen zu lernen. Schon gar nicht um anders zu sehen, als er es schon mehr als ein halbes Leben getan hat, bevor er zu fotografieren anfängt. Er holt mit seiner Kamera die Welt, die er sieht und er-lebt, in sein Haus, in seine eigene camera, um sie als Bilder für sich verfügbar zu machen. Er brauchte sie zum Leben, wie das tägliche Brot auf dem Tisch seiner Stube.
Malerei und Fotografie im Dialog
Wechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie gibt es, seit sich dieses erste mechanische Bildmedium ab 1840 rasant vorerst in Frankreich, darauf in England und der übrigen Welt verbreitete. Sofort verschrieb sich eine Vielzahl von Künstlern ganz der Fotografie und setzte sich für ihre Akzeptanz im jährlich in Paris stattfindenden Salon des Beaux-Arts ein – was ihnen jedoch nicht gelang. Andererseits waren es etablierte Künstler, die sich des Mediums meist im Verborgenen bedienten, d.h. Fotografien als Studienobjekte und Malvorlagen einsetzten. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür liefert Eugène Delacroix, der den Fotografen Eugène Durieu beauftragte, für ihn Aktaufnahmen anzufertigen, nach denen er ausgiebig skizzierte und malte. Aber auch viele andere, etwa Jean-Dominique Ingres, Gustave Courbet oder Edgar Degas, benutzten fotografische Vorlagen, orientierten sich am fotografischen Blick anderer oder fotografierten sogar selber. Dass sich Fotografen ihrerseits von der Malerei beeinflussen liessen, etwa Adolphe und Eugène Cuvelier von den Malern der Schule von Barbizon oder spätere Piktorialisten wie Alfred Stieglitz und Heinrich Kühn von den deutschen Impressionisten, ist quasi die Kehrseite der Medaille. Von praktisch allen diesen Wechselwirkungen, welche die Kunst- und Fotografiegeschichte bis in die heutige Zeit gleichermassen prägen, wissen wir spätestens seit der Ausstellung "The Painter and the Photograph", die Van Deren Coke 1964 in der Kunstgalerie der Universität von New Mexiko veranstaltete und der umfassenden Publikation „Art and Photography“, die 1968 von amerikanischen Kunsthistoriker Aaron Scharf publiziert wurde. Diese eher im angelsächsischen Raum bekannten Aufarbeitungen des Themas Kunst und Fotografie fanden ihre unmittelbare Nachfolge in einer grossen Ausstellung im Stadtmuseum München mit dem Titel "Malerei nach Fotografie. Von der Camera Obscura zur Pop Art" an welche 1977 Erika Billeters Ausstellung "Malerei und Photographie im Dialog" im Kunsthaus Zürich anknüpfte. Diese Ausstellung und ihr gewichtiger Katalog führten das Thema endgültig und nachhaltig auch in der Schweiz ein, was zahlreiche Publikationen und Ausstellungen zu Schweizer Künstlern, in deren Werk die Fotografie eine entscheidende Rolle spielte, zur Folge hatte.
Auf Adolf Dietrichs fotografisches Werk wurde man jedoch erst 1994 im Zusammenhang mit der Herausgabe seines Werkverzeichnisses und der Ausstellung "Adolf Dietrich. Seine Themen. Sein Leben" aufmerksam. Erst dann begann man, sich für die Bedeutung von Dietrichs Fotografie für seine Kunst und als eigenständiges Ausdrucksmittel zu interessieren. Nicht dass Dietrich zu Lebzeiten speziell auf seine Fotografien verwiesen hätte – im Gegenteil. Er hat nie über sie gesprochen, hat sie schon gar nicht propagiert, ja, sie eher versteckt (wie andere Künstler). Man hat ihn jedoch offensichtlich auch nie danach gefragt, sich nicht dafür interessiert. Einzig Lydia Ilg erinnerte sich, wie Adolf Dietrich auf seinen Spaziergängen oft seine Kamera mit Schwarzweissfilm dabei hatte, nebst einem Notizbuch, in dem er die Farben der Motive notierte. Doch auf keiner der unzähligen Fotos, die von Adolf Dietrich über die Jahre gemacht wurden, ist er mit einer Kamera zu sehen. Nur auf den Bildern, die Helga Lutz wenige Jahre vor seinem Tod anlässlich eines Besuches mit ihrem Vater machte, sieht man, wie Dietrich seine Fotografien achtlos, zwischen den Resten des Mittagessens, vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat.
Die Kunstgeschichtsschreibung hatte lange Zeit Mühe, sich mit der Fotografie angemessen auseinanderzusetzen. Erst in den 1920er Jahren, als Künstler der Avantgarde wie Lászlo Moholy-Nagy, Man Ray oder El Lissitzky intensiv mit Fotografie arbeiteten, sie sogar als das Bildmedium der Zukunft propagierten, begannen fortschrittliche Kunsthistoriker darüber nachzudenken. Einer der ersten war Franz Roh. , In seinem für die Kunst der Neuen Sachlichkeit wegweisenden Buch „Nach-Expressionismus“ (1925) widmete er der Fotografie ein ganzes Kapitel. Roh sieht eine direkte Beziehung zwischen der Fotografie und der "Freude an genauer Sicht und an der Wirklichkeit", wie er sie in der neusten Kunst in Europa zu erkennen glaubt: "So sagen die Jüngsten, das Skizzenbuch des kommenden Landschafters, so weit er Material sammle, etwa auf Reisen das Gelände durchstreife, sei der Fotografenkasten." Ja, der Fotoapparat sei nicht nur als "Sammler eines Motivschatzes" zu gebrauchen, sondern eine Fotografie könne sogar als eigentlicher Malgrund dienen, den der Künstler dann nur noch "retouchieren" müsse. Roh geht noch einen Schritt weiter, indem er der Fotografie ein eigenständiges Kunstpotenzial zumisst, und zwar nicht aufgrund künstlerisch-subjektiver Interpretation oder Gestaltung, sondern aufgrund etwa der Wahl des "ausdrucksgesättigten Objekts", der "Begrenzung des Ausschnitts" und des "Sehwinkels". Bereits dadurch könnten "eindrucksgesättigte, hinreissende, spezifische Bildwirkungen entstehen." Er sieht darin ein direktes Wiederanknüpfen an das erste, primitive fotografische Verfahren der Daguerreotypie, mit dem sich die Natur quasi selbst abbildete, ja sich selbst vollkommen scharf und mit fast dreidimensionaler Wirkung in einer Art Spiegel mit Gedächtnis festhielt, ohne jegliche gestaltende Handarbeit eines Künstlers.
Neben Franz Roh, der seit den frühen 1920er Jahren selbst fotografierte und sich bis in die 60er Jahre theoretisch mit der Fotografie auseinandersetzte, interessierte sich auch Herbert Tannenbaum, Adolf Dietrichs Händler und Mentor in Mannheim, der ihn wahrscheinlich zum Fotografieren inspiriert hatte, schon früh für die Fotografie. Er war nämlich nicht nur ein äusserst offener Kunsthändler, sondern vor allem auch einer der ersten Filmtheoretiker. Zudem war er Mitglied des Deutschen Werkbunds, Amateurfotograf und ernsthaft an der künstlerischen Fotografie interessiert – unter anderem hielt er bereits 1918/19 einen Vortrag zu diesem Thema und war mit Hugo Erfurth bekannt, einem der damals angesehensten Fotografen, dessen Porträtwerk er 1929 in einer Ausstellung in seinem Kunsthaus in Mannheim zeigte.
Adolf Dietrichs Malerei ist schon damals in Beziehung zur Kunst der Neuen Sachlichkeit rezipiert und diskutiert worden – Franz Roh schrieb ja schon 1926 in diesem Kontext über Dietrich als Laienkünstler , doch auch Dietrichs Fotografien lassen sich damit in Verbindung bringen. "Dietrich malt seine Umgebung ab, gewissenhaft wie ein Spiegel, der nur zuweilen nicht ganz im richtigen Winkel zu den Objekten steht", schrieb ein Kritiker 1922 Diese Aussage könnte ebenso gut für seine Fotografien gelten, sowohl jene, die er im Sinn des „Motivschatzes“ brauchte, als auch jene, die heute als autonome fotografische Werke gelten, da keine malerische Umsetzung bekannt ist. –.
Adolf Dietrichs Fotografien
Nebst dem wachsenden Interesse der künstlerischen Avantgarde und einer kleinen Gruppe fortschrittlicher Kunsthistoriker , Museumskuratoren und Galeristen, drang in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die Fotografie, wie auch das Medium Film, in das Bewusstsein einer immer breiteren Öffentlichkeit. Umfangreiche Ausstellungen wie "100 Jahre Lichtbild" (1927), "Photographien Albert Renger-Patzsch" (mit dem wegweisenden Buch "Die Welt ist schön", 1928) oder die Wanderausstellung des Deutschen Werkbunds "film und foto" (1929) wurden mit grossem Erfolg von Schweizer Museen gezeigt. Daneben erschienen immer mehr Fotografien in Zeitschriften wie der weit verbreiteten "Schweizer Illustrierten", der renommierten "Zürcher Illustrierten" (die unter der Leitung Arnold Kübler ab 1929 zum wichtigsten Schweizer Medium der neuen Reportagefotografie avancierte), aber auch in einer Menge kleinerer Publikationen, zu denen Familien-Wochenblätter wie "Leben und Glauben" oder "Der Sonntag" gehörten, die mehr oder weniger regelmässig auch in Adolf Dietrichs Haushalt in Berlingen aufgetaucht sein dürften. Nicht nur Dietrich, sondern auch andere Maler liessen sich in genau dieser Zeit zur Fotografie inspirieren. Als Beispiel wäre der in München ausgebildete Gotthard Schuh zu nennen, der bis Anfang dreissiger Jahre noch als Maler ausstellte, bevor er dann zu einer eigentlichen Galionsfigur der neusachlichen Fotografie in der Schweiz wurde. Es gab aber auch eine rege Amateurfotografenszene, deren ambitionierte Fraktion ihre Bilder selbst entwickelte – vorzugsweise noch in einem traditionellen Edeldruckverfahren. Die wirklichen Laien unter ihnen frequentierten die unzähligen kleinen Fotografengeschäfte oder Apotheken und Drogerien, deren Angestellte ihre Filme entwickelten und die als gelungen befundenen Bilder im Standardformat, mit oder ohne Büttenrand, kopierten. Zu genau diesen fotografischen Laien gehörte auch Adolf Dietrich, der sich mit seinen entwickelten Filmen und Kopien mitunter gleichzeitig Magenpulver, Nerventabletten oder Wunderbalsam schicken liess – per Nachnahme, wohl verstanden.
Franz Roh schrieb: "Dietrichs Malerei rechnet zur Laienkunst, wenn man damit feststellen will, dass sie, ohne eigentliche Schulung, und ohne daraus Berufsarbeit zu entwickeln, liebenswertes Erzeugnis allein der inneren Passion blieb." Dies kann auch für Dietrichs Fotografie gesagt werden: Er war tatsächlich völlig ungeschult in Sachen Fotografie – wenn man von den gelegentlichen Anweisungen seinen Neffen Heinrich absieht, der anfänglich seine Filme entwickelte. Auch das von Heinrich empfohlene Lehrbuch für Amateure mit dem Titel "Was viele Photographierende nicht wissen" scheint Dietrich kaum konsultiert zu haben. Dietrich kämpfte immer wieder mit Belichtungsproblemen, und auch der "Brillantsucher" seiner 6x9 cm Rollfilmkamera Marke Voigtländer "Bessa" (Jahrgang 1929), die er zur Hauptsache benutzt haben dürfte, machte ihm zu schaffen. In diesem Sucher, der sich bei Bedarf in eine Hoch- oder Querformatstellung kippen liess (sein Neffe hatte ihn speziell darauf hingewiesen) , war das Motiv nur sehr klein und nicht bis an die Ränder des Bildformats sichtbar, was die genaue Ausschnittbegrenzung erschwert haben musste.
Auch war es schwierig, die „Bessa“ aufgrund des Sucherbildes im Lot zu halten, was dazu führte, dass in vielen von Adolf Dietrichs Aufnahmen der Horizont leicht schief ist (wenn dieser Umstand nicht zum Teil beim Kopierprozess korrigiert wurde), was den Bildern oft eine eigenartige, aber ungewollte Dynamik verleiht. Sie ist Ausdruck einer Unbeholfenheit, wie sie auch in Dietrichs gemalten Bildern wahrgenommen wurde: Er fotografierte zwar gewissenhaft, nur hielt er eben zuweilen seinen Apparat (Spiegel) „nicht ganz im richtigen Winkel zu den Objekten“. Die "Bessa" war noch nicht mit einem seitlichen Rahmensucher ausgestattet und musste deshalb immer mit einer Armlänge Distanz vom Auge vor dem Bauch gehalten werden. Fotografiert wurde mit gesenktem Kopf und Blick nach unten auf den „Brillantsucher“,. Dietrich schien dieser umständlichen Klappkamera während vielen Jahren treu geblieben zu sein, vielleicht weil die Art, wie er mit ihr fotografierte, ganz seiner üblichen Arbeitsweise als Zeichner und Maler entsprach: sitzend, mit einem Skizzenblock auf den Knien oder über seinen Malkarton gebeugt – wie es auf verschiedenen Fotografien sichtbar ist (ills).
Trotz der Schwierigkeiten, die Dietrich mit seiner Kamera hatte – oder gerade deswegen – und dank seiner technischen Unvoreingenommenheit und vielleicht auch Naivität fotografischen Bildern gegenüber, entstanden über die Jahre eine grosse Anzahl "eindrucksgesättigte, hinreissende" Fotografien, "liebenswerte Erzeugnissse" einer inneren Passion, wie es Franz Roh gesagt hätte, die auch heute noch faszinieren. Dazu gehören neben den zahlreichen Fotografien der Unterseelandschaft in den verschiedensten Stimmungen etwa Bilder des gefrorenen Seeufers, die nicht nur die bizarre Kraft einer "Seegfrörni" augenfällig machen, sondern darüber hinaus das Gefühl einer neuen Eiszeit suggerieren (ill.). Ein ähnlich frostiges Gefühl vermitteln die Aufnahmen, in deren Vordergrund ein Gewirr von zwischen schrägen Pfählen gespannten Stacheldrähten den Zugang zum See (und zum offenen Bildraum) versperren (ill.). Es sind beunruhigende Bilder der Schweizer Grenze am See, aufgenommen während der Kriegsjahre, die eine grosse Leere und Einsamkeit evozieren. Im Gegensatz dazu das Bild der Heuerin, die ruhig ihrer Arbeit nachgeht, beobachtet von einer Frau, die unter einem schattigen Baum zwei Kinderwagen hütet: die perfekte Idylle diesseits der Grenze (ill.).
Auch im Dorf gelingen Dietrich aussergewöhnliche Bilder von Orten, oder besser Nicht-Orten zwischen den Häusern, die, vor allem wenn sie sich schneebedeckt zeigen, eine geheimnisvolle Ruhe ausstrahlen (ill.). Selten geht Dietrich den lauten Ereignissen nach, lieber hält er sich auf Distanz, beobachtet mehr die gaffenden Leute als das Ereignis selbst. Ausser an der Chilbi. Da schaut er nicht nur aus dem Fenster oder späht im Schutz einer Hauswand aufs lebendige Treiben, sondern mischt sich unters Publikum und hält mit seiner Kamera etwa den Betrieb der Leute um ein Karussell oder ein Paar auf einer schwingenden Schifflischaukel fest (div. ills.). Ähnlich fotografiert er das tosende Wasser des Rheinfalls, vorbeifahrende Velofahrer oder einen Reisecar, den er gerade noch erwischt, bevor er aus dem Bildfeld rast (ills.). Er folgt der Bewegung nicht, sondern bleibt ruhig stehen – wie in der Gebrauchsanweisung zur „Bessa“ empfohlen – und lässt sie an sich vorbeihuschen.
Nur wenn Dietrich Leute aus dem Dorf oder andere ihm bekannte Personen für sich posieren lässt, wagt er sich auch an Menschen ganz nahe heran. Dabei gelingen ihm ausdrucksstarke Porträts etwa eines stolzen Entenjägers am Seeufer (ill.), oder das Bild einer sichtlich fröstelnden Frau ohne Mantel auf einer verschneiten Dorfstrasse – vielleicht dauerte die Prozedur doch länger, als sie erwartet hatte (ill.). Nicht weniger eindrücklich ist das Porträt eines riesigen, gefangenen und perfekt senkrecht ins Bild gesetzten Hechts, neben dem der ihn stolz präsentierende Fischer mehr zu hängen als zu stehen scheint (ill.). Aussergewöhnlich auch die Szene, in der sich eine schwarzweisse Katze an einem auf dem Boden platzierten Korb vorbeidrückt als sähe sie den leckeren Fisch darin nicht – ein Bild, das jedem professionellen Reportagefotografen zur Ehre gereicht hätte. Dietrich hat ein Auge für beides, das wichtige Dorfereignis und die nebensächliche Szene, doch auch beides nur sporadisch. Es ergibt sich, wenn es sich ergibt. Nichts scheint geplant oder verlangt zu sein. Dietrich kann deshalb kaum zu jenen eigentlichen Dorffotografen gezählt werden, die in den letzten Jahren an verschiedenen Orten in der Schweiz entdeckt wurden.
Als eigentliche Bühne für eine ganze Reihe von aussergewöhnlichen Porträts benutzt Dietrich den Holzsteg hinter seinem Haus, auf dem ihn Herbert Tannenbaum schon Mitte der zwanziger fotografiert hatte. Der Steg über dem Wasser wird zu seinem Feilichtstudio, in dem er seine Modelle sich mit ernster Miene präsentieren oder spielerisch inszenieren lässt (div. ills.). Wie in den Porträtfotografien des 19. Jahrhunderts die dekorativen Tischchen und Säulen, geben die Pfosten und Latten des Stegs den Modellen Halt – einen trügerischen zwar, wie bei genauer Betrachtung unschwer zu erkennen ist. Die unterschiedlichen Menschen, die uns ungeschminkt, kostümiert oder sonntäglich herausgeputzt aus Dietrichs Bildern ansehen, strahlen viel vom damaligen Lebensgefühl der Menschen in Berlingen aus. Sie erzählen aber auch von den sozialen Unterschieden zwischen den Einheimischen und den Besuchern aus der Stadt, die dem Kunstmaler Adolf Dietrich ihre Aufwartung machten. Obwohl sie in ihrer Art gänzlich verschieden sind, erinnern diese Porträts stark an die zahlreichen Bilder, die Ernst Ludwig Kirchner von seinen Besuchern auf der Veranda seines abgelegenen Wohnhauses auf dem Wildboden bei Davos machte.
Der Hauptgrund, warum Dietrich seine Modelle vor allem draussen porträtierte, war ein technischer: weil drinnen weniger Licht vorhanden war, wären die Belichtungszeiten zu lang gewesen (sein Neffe warnte ihn davor) . Es gibt deshalb nur relativ wenige Innenaufnahmen von Personen, die Dietrich fast alle direkt am Fenster aufnahm. Dazu gehört die fast archetypische Szene mit der jungen Frau, die über die Geranien auf dem Fensterbrett hinweg nach draussen schaut, als erwarte sie jemanden. Als fast surreales Gegenstück dazu das wunderbare Bild einer Kaktuspflanze, die sich, aus einem Topf auf einer „V.S.K.“-Kiste stehend, dem Fenster und damit dem Licht zuneigt (ill.).
Überhaupt ist das Fenster nicht nur in Dietrichs Malerei, sondern auch in seinen Fotografien immer wieder ein Thema. Oft fotografiert er aus dem Fenster auf die Strasse – manchmal unbemerkt von den Passanten, manchmal schauen sie zu ihm hinauf (ill.). Und immer wieder richtet er seine Kamera auf den gegenüberliegenden Garten, den er so oft gemalt hat, betrachtet ihn einerseits, wie er sich im Laufe der Jahreszeiten über die Jahre verändert – quasi der Blick des alternden Künstlers auf die Welt. Andrerseits versteckt er sich wie ein Voyeur hinter seinen Pflanzen auf dem Fensterbrett und beobachtet das Leben, das sich im Garten abspielt: von der Gartenarbeit der Nachbarn über das Spielen der Kinder bis zu fast märchenhaften Erscheinungen von weiblichen Wesen im weissen Kleid oder Bikini (ills.). Es sind eigentliche „Schnappschüsse“ aus der erhöhten Position des Stuben- oder Dachfensters. In diesem Sinn erinnern diese Fotografien an die Strassenbilder des Bildhauers Karl Geiser, die bei ihm aber besonders in der Form der bewusst gestalteten Archivbogen einen eigenständigen künstlerischen Ausdruck erreichen. Im Gegensatz dazu lässt sich in Dietrichs einzigem Album, in dem er einige seiner Bilder einklebte, kein gestalterischer Wille erkennen: keine narrative Serie, keine assoziativen Gegenüberstellungen, nur ein einfacher Raster, aus dem er vereinzelt und mehr oder weniger zufällig ausbricht.
Sehen ist Leben
Das fotografische Bild als solches, der schöne Abzug, scheint Dietrich überhaupt nicht zu interessieren. Nicht von einer einzigen seiner Aufnahmen liess er eine Vergrösserung herstellen. Die kleinen, standardisierten, neutralgrauen und glänzenden Drogistenbildchen, die ihm per Post zugesandt werden, genügten ihm vollends. Sie entsprechen in diesem Sinn ganz einer neusachlichen Ästhetik, wie sie Franz Roh in der Kunst ("ohne Gewebe des Strichs, der Faktur") und in der Fotografie erkannte: "wo alles 'Temperament', aller Herstellungsprozess völlig ausgetilgt sein und der Kunstkörper glatte Objektivation bedeuten soll. Wo [...] es als Schimpf gelten würde, dass man künstlerische 'Handschrift' irgendwie spüre [...]".
Doch wie beim Malen hat Adolf Dietrich auch beim Fotografieren kein ästhetisches Programm im Kopf. Er fotografiert unbelastet, intuitiv und deshalb auf eine Art, die ganz dem "Wesen" der Fotografie – das ebenfalls in den zwanziger Jahre diskutiert wurde – entsprach.
Das Fenster (wie sein Gegenstück der Spiegel) kann auch als eine Metapher für das "Wesen" Fotografie gelesen werden. Deshalb sind die aus dem Fenster aufgenommenen Bilder vielleicht Dietrichs fotografischste Arbeiten. Sie thematisieren den Blick von drinnen nach draussen, mit dem Fenster als fotografische Linse und der Stube oder dem Dachboden dahinter als „camera obscura“, als Dunkelkammer. Damit wird Dietrichs Haus gleichsam zum „Fotografenkasten“, in dessen dunklem Innern der Künstler arbeitet – von innen nach aussen.
Wenn sich Dietrich also aus dem Fenster lehnt (ill.???), oder mit seiner Kamera durch die Umgebung streift, dann will er sehen, nur sehen. "Sehen ist leben", wie es auf zahllosen Negativtäschchen der Firma Hepp in Konstanz steht, in denen Dietrich seine Bilder aufbewahrte. Obwohl Dietrich die vor ihm liegende Realität ab-fotografiert – wie er andere "Vor-lagen" abmalt – , folgt er inneren Bildern, die sich schon viel früher gefestigt haben; es sind Bilder einer Welt, die er seit seiner Kindheit wie seine eigene Westentasche kennt: Die Landschaft des Untersees, Berlingen und seine Umgebung, die Menschen aus dem Dorf . Er braucht die Fotografie nicht, um neu zu sehen, oder sehen zu lernen. Schon gar nicht um anders zu sehen, als er es schon mehr als ein halbes Leben getan hat, bevor er zu fotografieren anfängt. Er holt mit seiner Kamera die Welt, die er sieht und er-lebt, in sein Haus, in seine eigene camera, um sie als Bilder für sich verfügbar zu machen. Er brauchte sie zum Leben, wie das tägliche Brot auf dem Tisch seiner Stube.