Landert, Markus
Ein Ausstellungsrundgang mit Hintergrundinformationen
Erfahren Sie mehr über die aussergewöhnliche Geschichte der Sammlung. Die ausführliche Information zur Ausstellung bietet neben dem Audioguide eine spannende Einführung: Der Begriff „Konstellation“ dient im Kunstmuseum Thurgau zur Kennzeichnung einer Ausstellungsreihe, die der Auseinandersetzung mit der Sammlung gewidmet ist. Seit rund zehn Jahren werden regelmässig Ausstellungen eingerichtet, in denen thematische Schwerpunkte aus der rund 30‘000 Objekte umfassenden Sammlung des Museums herausgearbeitet sind.
Die Untertitel skizzieren dabei einen Rechercheschwerpunkt, der die jeweilige Konstellationsausstellung leitet. „71 Jahre – 71 Werke“ verweist auf die Sammlungsgeschichte und definiert als Ausstellungskonzept das Prinzip, aus jedem Jahr der Sammlungstätigkeit ein Schlüsselwerk der Ankaufstätigkeit auszuwählen. Diese Zeitlinie dokumentiert eindrücklich den Wandel der Sammlungsziele und lässt mit seltener Deutlichkeit nachvollziehen, wie sich die Anforderungen an Museumsbetrieb und Publikum in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Parallel zu dieser Zeitlinie werden in sieben Ausstellungszellen die Schwerpunkte der Sammlung, die sich im Lauf der Zeit herausgebildet haben, mit Hauptwerken der Sammlung verdeutlicht. Neben den altbekannten Meisterwerken gibt es dabei auch viel Unbekanntes zu entdecken.
Erste Schritte zu einer Kunstsammlung
Den Kern des Kunstmuseums Thurgau bildet die kantonale Kunstsammlung. Seit 1941 existiert im Budget des Kantons Thurgau ein Kunstkredit von SFr. 3‘000.- für Ankäufe im Bereich der bildenden Kunst. Die Ankäufe waren ursprünglich als Unterstützungsmassnahme für Künstlerinnen und Künstler gedacht und die angekauften Werke kamen ganz pragmatisch als Schmuck der Amtsstuben zum Einsatz. Das Inventarbuch des Museums verzeichnet so in den ersten Jahren vorzugsweise Landschaftsbilder und Porträts. Als erster Ankauf ist der Erwerb des Werks „Lago di Muzzano in Marzo“ von Pietro Chiesa verzeichnet. In den kommenden Jahren folgten Werke von Theo Glinz, Adolf Dietrich, August Herzog, Carl Roesch, Ernst Kreidolf aber auch von Künstlerinnen und Künstlern, deren Namen heute kaum noch jemand kennt.
Wie kam es mitten im Krieg zu dieser Investition in die Kunst? Ein Text von Bruno Meyer zur Eröffnung des Kunstmuseums in der Kartause Ittingen am 5. April 1983 gibt Einblick in die Gründungssituation. Bruno Meyer, während vieler Jahre Staatsarchivar und Leiter der thurgauischen Museen, hatte die Sammlungstätigkeit von Beginn weg begleitet und entscheidend mitgeformt. Die Eröffnung des Museums in der Kartause Ittingen 1983 bedeutete für ihn und seine Mitstreiter das Erreichen eines Ziels, das mit dem Erwerb des Werks von Pietro Chiesa seinen Anfang genommen hatte.
Bereits in den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte sich im Thurgau ein vielfältiges Interesse für die bildende Kunst gezeigt, das sich unter anderem in der Gründung der Thurgauischen Kunstgesellschaft 1935 und der Thurgauischen Künstlergruppe 1941 niederschlug. Meyer schreibt in seinem Rückblick:
„Es war damals die Zeit der Vorbereitung der Landesausstellung von 1939 in Zürich. Wer diese Jahre nicht miterlebt hat, kann es sich gar nicht vorstellen, wie stark, angesichts der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland, die Besinnung auf die eigenen Werte der Schweiz gewesen ist. … Für die Entstehung eines thurgauischen Kunstmuseums waren die Jahre vor und nach der Landessausstellung von 1939 durchaus günstig, weil sich das Verständnis für die bildende Kunst aussergewöhnlich verstärkt hatte. Im Seminar (Kreuzlingen) begeisterte der Direktor Dr. W. Schohaus die jungen Lehrer für die Kunst, die Kunstgesellschaft veranstaltete 1937 Schaufensterausstellungen in Amriswil, Arbon, Frauenfeld und Kreuzlingen, 1938 eine Ausstellung in Sirnach und 1940 übernahm sie eine Regionalausstellung des schweizerischen Kunstvereins in Frauenfeld. Dort erwarb der thurgauische Regierungsrat die Nummer 1 der kantonalen Kunstsammlung, eine grosse Landschaft des Muzzanersees von Pietro Chiesa. Diese hing dann während der ganzen Amtszeit des Staatsschreibers Dr. Hermann Fisch in dessen Büro.“
1941 schufen der Regierungsrat und der Thurgauer Grosse Rat einen jährlichen Kunstkredit, der aus den Mitteln des Lotteriefonds gespiesen wurde. In den darauf folgenden Jahren erwarben Mitglieder der Regierung aus Ausstellungen Werke, die als Büroschmuck in die Zimmer der Departementsvorsteher und in die einzelnen Ämter verteilt wurden.
Sammeln mit Blick auf die Einrichtung eines Museums
In den ersten Jahren erfolgte die kantonale Sammeltätigkeit ohne eigentliches Sammlungskonzept. Die Bilder dienten der Ausschmückung der Amtsstuben sowie Bildungs- und Repräsentationszwecken, was sich in der Wahl der gekauften Werke zeigt. Beliebt waren konventionelle Landschaften und Porträts. Eine Werkgruppe aus einem halben Dutzend Bildnissen von Regierungsräten lässt vermuten, dass während einer gewissen Zeit die Idee einer Galerie bedeutender politischer Würdenträger verfolgt wurde. Schon früh gab es aber Bestrebungen, die künstlerische Qualität der Werke und die Einrichtung eines Kunstmuseums zu den zentralen Auswahlkriterien zu machen. In einem Regierungsratsentscheid für den Ankauf eines Werks von Carl Roesch ist so zu lesen:
„Die Ziele der Ankaufspolitik von Werken lebender Künstler mit den Mitteln des Kunstkredites des Regierungsrates sind uneinheitlich. Alle die Erwerbungen verbindet nur das Eine, dass es sich stets um eine Förderung des Kunstbemühens auf dem Gebiet der bildenden Kunst der Gegenwart handelt. Zumeist steht im Vordergrund, durch Ankäufe die Durchführung öffentlicher Kunstausstellungen zu fördern und die Künstler in ihrem oft sehr schweren Ringen um die Kunst zu ermutigen. Ein kleiner Teil wird erworben zur Behebung dringender Not von Künstlern, wobei dann oft der Grundsatz der Qualität hintangestellt werden muss. Alle diese Werke eigenen sich in der überwiegenden Zahl sehr gut als Schmuck für die Räume der Zentralverwaltung und der Anstalten. Nur ganz wenige Arbeiten besitzen aber die Qualitäten, dass sie als Grundstock für ein zukünftiges thurgauisches Kunstmuseum in Frage kommen, wo sie als Leihgaben des Kantons vom thurgauischen Kunstschaffen Zeugnis ablegen können. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die Ankäufe in vorausschauender Weise durch die Erwerbung einzelner (re)präsentativer Werke von thurgauischen Künstlern zu ergänzen.“
Ähnliche Argumentationen finden sich nicht nur für den Ankauf des Bildes „Im Gespräch“ von Carl Roesch, das 1958 für SFr. 1‘500 erworben wurde, sondern auch beim Ankauf des bekannten Selbstporträts von Adolf Dietrich aus dem Jahre 1932, das 1954 für SFr. 2‘000 gekauft wurde, oder das Bild „Zwei tote Säger und Kolbenente in Winterlandschaft“ von 1947, für dessen Erwerb 1963 bereits SFr. 8‘500 aufgewendet wurde.
Professionalisierung der Sammlungstätigkeit
Das Jahr 1963 brachte einen wichtigen Schritt hin zur Professionalisierung der Sammlungstätigkeit des Kantons. Der Regierungsrat setzte eine „Kommission zur Förderung der bildenden Kunst“ ein, die mit einem auf SFr. 15'000.- erhöhten Ankaufsbudget Ankäufe tätigen konnte. Ziel dieser Massnahme war es, „eine gezielte und systematische Kunstförderung“ zu betreiben, da „allmählich an die Anlage einer öffentlichen Kunstsammlung im Kanton Thurgau herangetreten werden muss“. Der Kommission gehörten am Anfang neben drei Kantonsräten, dem Künstler Andrea Nold und dem Präsidenten der Kunstgesellschaft Ernst Mühlemann wichtige Staatsbeamte an, so der kantonale Denkmalpfleger Albert Knöpfli, der Kantonsbaumeister Rudolf Stuckert, der Sekundarschulinspektor Werner Schmid sowie der Staatsarchivar Bruno Meyer. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben war es, der Regierung Kunstwerke zum Ankauf vorzuschlagen. Die Kommission erfüllte in wechselnder Zusammensetzung ihre Aufgaben bis ins Jahr 2002, als sie im Zusammenhang mit der Reorganisation der Kulturaktivitäten des Kantons und der damit einhergehenden Gründung des Kulturamtes aufgelöst wurde.
Die Professionalisierung der Sammlungstätigkeit spiegelt sich in einer Zuspitzung der Ankäufe auf künstlerische Fragestellungen. 1964 wurde das erste ungegenständliche Werk für die Thurgauische Kunstsammlung erworben, das 1961 erstandene Bild „Farbsplitter“ von Helen Dahm, das in einer Ausstellung des Kunstvereins Frauenfeld zu sehen war. Auch in den folgenden Jahren wurden weitere Werke angekauft, in denen sich das Interesse an neuesten Ausdrucksformen der Kunst und insbesondere der gegenstandslosen Malerei manifestierte: 1968 gelangte das Bild „Evolution“ von Rose-Marie Maron als Ankauf aus der Ausstellung der Thurgauischen Künstlergruppe in Arbon in die Sammlung und 1969 das Bild „Dispersion I-69“ von Jürg Schoop.
Für die Sammlungstätigkeit gab es nun klare Richtlinien. In einem Regierungsratsbeschluss vom 15. Oktober 1963 heisst es unter anderem: „Bei Ankäufen und Werkaufträgen sind in erster Linie im Kanton niedergelassene Künstler und Kantonsbürger zu berücksichtigen. Die Vermehrung der Kunstsammlung hat in der Weise zu erfolgen, dass vor allem Werke mit thurgauischen Motiven und Zeugnisse thurgauischen Kunstschaffens aller Zeiten erworben werden.“ Die Verwaltung der Ankäufe oblag dem Staatsarchivar Bruno Meyer, der als Vorstandsmitglied der Thurgauischen Kunstgesellschaft, als Mitglied der Kommission zur Förderung der bildenden Kunst und als Vorsteher des kantonalen Museumsamtes eine Schlüsselposition bei den zukünftigen Ankäufen und deren Verwaltung einnahm. Die Kommission zur Förderung der bildenden Kunst arbeitete gezielt an der Erweiterung der Sammlung und erwarb im Lauf der Jahre wichtige Werkgruppen von Adolf Dietrich, Carl Roesch, Ernst Brühlmann, Ignaz Epper und Helen Dahm.
Museumsprovisorium in Frauenfeld
Je grösser die Sammlung wurde, desto dringlicher stellte sich die Frage, wo die Werke denn aufbewahrt und gezeigt werden sollten. 1971 stiftete die Thurgauer Kantonalbank aus Anlass ihres hundertjährigen Bestehens 1 Million Franken für ein zu schaffendes Kunstmuseum. Damit war die Einrichtung eines Museums in greifbare Nähe gerückt. Der Kanton eröffnete 1973 in der Villa Sonnenberg in Frauenfeld ein provisorisches Museum, für dessen Betreuung der Lehrer Heinrich Ammann als Konservator eingestellt wurde. Mit Ausstellungen über Helen Dahm, Hans Brühlmann, insbesondere aber mit einer ersten Retrospektive über das Schaffen von Adolf Dietrich schuf dieser einen wichtigen Grundstein für die weitere Museumstätigkeit.
Für die Verantwortlichen war bald klar, dass der Museumsbetrieb in Frauenfeld die hochfliegenden Erwartungen an ein Kunstmuseum nicht zu erfüllen vermochte. Bruno Meyer fasst in einem Typoskript von 1974 die kritischen Stimmen zusammen:
„Die Eröffnung des Provisoriums des Kunstmuseums im Haus Sonnenberg in Frauenfeld bedeutet nur einen ersten Anfang. Wer all die vielen vergeblichen Bestrebungen zur Schaffung eines thurgauischen Kunstmuseum im letzten halben Jahrhundert vor Augen hat, wird über das Erreichte froh sein und mit neuer Hoffnung in die Zukunft blicken. Wer als Kunstfreund die grossen Museen des In- und Auslandes besucht und damit den „Sonnenberg“ vergleicht, wird seiner starken Enttäuschung Ausdruck geben. Es muss mit aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass bewusst ein Provisorium erstellt wurde, um von ihm aus die Schaffung eines endgültigen Kunstmuseums vorzubereiten. Die erste Wegstrecke bildete die Sammlung ei--nes genügenden Grundbestandes an Kunstwerken. Sie wurde vor rund drei Jahrzehnten begonnen und seit zehn Jahren zielgewusst gefördert. Die zweite sollte zum Kunstmuseum führen und beginnt jetzt mit der Schaffung des Provisoriums.“
1977 erfuhren die Museumspläne einen unvorhersehbaren Entwicklungsschub. Mit der Gründung der Stiftung Kartause Ittingen und der Erarbeitung eines neuen Betriebskonzeptes für die ehemalige Klosteranlage war bald klar, dass das Kunstmuseum als Partnerbetrieb Teil dieses attraktiven Kulturzentrums werden sollte.
Ein Zentrum der Aussenseiterkunst
Spätestens dann, als sich die Möglichkeiten eines Kunstmuseums in der Kartause Ittingen abzeichneten, setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine rein auf regionale Kunst abstützende Sammlung langfristig zu wenig attraktiv ist. Aus diesem Grund wurde ab 1975 auf das Betreiben von Ernst Mühlemann hin um die Werkgruppe von Adolf Dietrich ein Schwerpunktgebiet „Internationale naive Kunst“ geschaffen. Als eines der ersten Werke wurde 1975 ein Hinterglasbild des Kroaten Josip Mrvčić erworben. Weitere Bilder der damals hoch im Kurs stehenden kroatischen Naiven Vilma Doresic und Dragan Bobovec folgten. Bis in die frühen Neunzigerjahre wurden bedeutende Werkgruppen vor allem französischer Naiver wie Camille Bombois, André Bauchant oder Emeric Feješ angekauft, so dass sich heute einige auserlesene Bilder dieser Zeitgenossen Picassos und Le Corbusiers in der Thurgauischen Kunstsammlung finden. Für den Erwerb von André Bauchants „Schlacht bei den Thermophylen“ wurde 1989 der stattliche Betrag von SFr 126‘000 aufgewendet.
Allerdings zeigte sich, dass die finanziellen Rahmenbedingungen nicht genügten, um Werke des bedeutendsten Naiven, Henri Rousseau, anzukaufen, wodurch diesem Sammlungsteil ein Höhe- und Mittelpunkt fehlte. Um diesen Mangel auszugleichen, wurde seit den frühen Neunzigerjahren die ursprünglich strikte Konzentration auf die „reinen Naiven“ aufgebrochen. Die Sammlungstätigkeit wurde geöffnet hin zur „Aussenseiterkunst“, die neben den Naiven auch die art brut oder das Schaffen von „Lebenskunstwerkern“ umfasst. Im Lauf der Jahre konnten wichtige Bilder oder Zeichnungsserien von Jakob Greuter, Josef Wittlich, Theo (Wagemann) oder François Burland erworben werden.
Dieses Engagement für Aussenseiter brachte Mitte der 90er Jahre einen unverhofften Gewinn. Hans Krüsi hinterliess bei seinem Tod 1995 dem Kunstmuseum Thurgau seinen Nachlass. Die Erbschaft umfasste Tausende von Werken, wodurch die Sammlung der Aussenseiterkunst einen neuen, attraktiven Schwerpunkt erhielt. Das Wagnis der Übernahme des Nachlasses von Hans Krüsi konnte eingegangen werden, weil bereits 1994 der gesamte Dietrich-Nachlass als Depositum der Thurgauischen Kunstgesellschaft ins Museum gelangt war, wodurch entsprechende Erfahrungen im Umgang mit Nachlässen bestanden.
Internationale Gegenwartskunst – vor Ort konzipiert
Die letzten Ausstellungsräume dokumentieren die Öffnung zur internationalen Gegenwartskunst. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben weltweit renommierte Positionen wie Jenny Holzer, Janet Cardiff (Audioguide „Ittingen Walk“), Joseph Kosuth („Eine verstummte Bibliothek“ im Unteren Keller) oder Tadashi Kawamata („Scheiterturm“ im Aussenraum) für das ehemalige Kloster ortsspezifische Werke kon¬zipiert.
Die zweite Jubiläums-Sammlungspräsentation „Konstellation 6. Begriffe, Räume und Prozesse“ wird im Herbst 2013 fortgesetzt. Sie widmet sich installativen Arbeiten und neuen Medien der letzten Jahr
Die Untertitel skizzieren dabei einen Rechercheschwerpunkt, der die jeweilige Konstellationsausstellung leitet. „71 Jahre – 71 Werke“ verweist auf die Sammlungsgeschichte und definiert als Ausstellungskonzept das Prinzip, aus jedem Jahr der Sammlungstätigkeit ein Schlüsselwerk der Ankaufstätigkeit auszuwählen. Diese Zeitlinie dokumentiert eindrücklich den Wandel der Sammlungsziele und lässt mit seltener Deutlichkeit nachvollziehen, wie sich die Anforderungen an Museumsbetrieb und Publikum in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Parallel zu dieser Zeitlinie werden in sieben Ausstellungszellen die Schwerpunkte der Sammlung, die sich im Lauf der Zeit herausgebildet haben, mit Hauptwerken der Sammlung verdeutlicht. Neben den altbekannten Meisterwerken gibt es dabei auch viel Unbekanntes zu entdecken.
Erste Schritte zu einer Kunstsammlung
Den Kern des Kunstmuseums Thurgau bildet die kantonale Kunstsammlung. Seit 1941 existiert im Budget des Kantons Thurgau ein Kunstkredit von SFr. 3‘000.- für Ankäufe im Bereich der bildenden Kunst. Die Ankäufe waren ursprünglich als Unterstützungsmassnahme für Künstlerinnen und Künstler gedacht und die angekauften Werke kamen ganz pragmatisch als Schmuck der Amtsstuben zum Einsatz. Das Inventarbuch des Museums verzeichnet so in den ersten Jahren vorzugsweise Landschaftsbilder und Porträts. Als erster Ankauf ist der Erwerb des Werks „Lago di Muzzano in Marzo“ von Pietro Chiesa verzeichnet. In den kommenden Jahren folgten Werke von Theo Glinz, Adolf Dietrich, August Herzog, Carl Roesch, Ernst Kreidolf aber auch von Künstlerinnen und Künstlern, deren Namen heute kaum noch jemand kennt.
Wie kam es mitten im Krieg zu dieser Investition in die Kunst? Ein Text von Bruno Meyer zur Eröffnung des Kunstmuseums in der Kartause Ittingen am 5. April 1983 gibt Einblick in die Gründungssituation. Bruno Meyer, während vieler Jahre Staatsarchivar und Leiter der thurgauischen Museen, hatte die Sammlungstätigkeit von Beginn weg begleitet und entscheidend mitgeformt. Die Eröffnung des Museums in der Kartause Ittingen 1983 bedeutete für ihn und seine Mitstreiter das Erreichen eines Ziels, das mit dem Erwerb des Werks von Pietro Chiesa seinen Anfang genommen hatte.
Bereits in den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte sich im Thurgau ein vielfältiges Interesse für die bildende Kunst gezeigt, das sich unter anderem in der Gründung der Thurgauischen Kunstgesellschaft 1935 und der Thurgauischen Künstlergruppe 1941 niederschlug. Meyer schreibt in seinem Rückblick:
„Es war damals die Zeit der Vorbereitung der Landesausstellung von 1939 in Zürich. Wer diese Jahre nicht miterlebt hat, kann es sich gar nicht vorstellen, wie stark, angesichts der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland, die Besinnung auf die eigenen Werte der Schweiz gewesen ist. … Für die Entstehung eines thurgauischen Kunstmuseums waren die Jahre vor und nach der Landessausstellung von 1939 durchaus günstig, weil sich das Verständnis für die bildende Kunst aussergewöhnlich verstärkt hatte. Im Seminar (Kreuzlingen) begeisterte der Direktor Dr. W. Schohaus die jungen Lehrer für die Kunst, die Kunstgesellschaft veranstaltete 1937 Schaufensterausstellungen in Amriswil, Arbon, Frauenfeld und Kreuzlingen, 1938 eine Ausstellung in Sirnach und 1940 übernahm sie eine Regionalausstellung des schweizerischen Kunstvereins in Frauenfeld. Dort erwarb der thurgauische Regierungsrat die Nummer 1 der kantonalen Kunstsammlung, eine grosse Landschaft des Muzzanersees von Pietro Chiesa. Diese hing dann während der ganzen Amtszeit des Staatsschreibers Dr. Hermann Fisch in dessen Büro.“
1941 schufen der Regierungsrat und der Thurgauer Grosse Rat einen jährlichen Kunstkredit, der aus den Mitteln des Lotteriefonds gespiesen wurde. In den darauf folgenden Jahren erwarben Mitglieder der Regierung aus Ausstellungen Werke, die als Büroschmuck in die Zimmer der Departementsvorsteher und in die einzelnen Ämter verteilt wurden.
Sammeln mit Blick auf die Einrichtung eines Museums
In den ersten Jahren erfolgte die kantonale Sammeltätigkeit ohne eigentliches Sammlungskonzept. Die Bilder dienten der Ausschmückung der Amtsstuben sowie Bildungs- und Repräsentationszwecken, was sich in der Wahl der gekauften Werke zeigt. Beliebt waren konventionelle Landschaften und Porträts. Eine Werkgruppe aus einem halben Dutzend Bildnissen von Regierungsräten lässt vermuten, dass während einer gewissen Zeit die Idee einer Galerie bedeutender politischer Würdenträger verfolgt wurde. Schon früh gab es aber Bestrebungen, die künstlerische Qualität der Werke und die Einrichtung eines Kunstmuseums zu den zentralen Auswahlkriterien zu machen. In einem Regierungsratsentscheid für den Ankauf eines Werks von Carl Roesch ist so zu lesen:
„Die Ziele der Ankaufspolitik von Werken lebender Künstler mit den Mitteln des Kunstkredites des Regierungsrates sind uneinheitlich. Alle die Erwerbungen verbindet nur das Eine, dass es sich stets um eine Förderung des Kunstbemühens auf dem Gebiet der bildenden Kunst der Gegenwart handelt. Zumeist steht im Vordergrund, durch Ankäufe die Durchführung öffentlicher Kunstausstellungen zu fördern und die Künstler in ihrem oft sehr schweren Ringen um die Kunst zu ermutigen. Ein kleiner Teil wird erworben zur Behebung dringender Not von Künstlern, wobei dann oft der Grundsatz der Qualität hintangestellt werden muss. Alle diese Werke eigenen sich in der überwiegenden Zahl sehr gut als Schmuck für die Räume der Zentralverwaltung und der Anstalten. Nur ganz wenige Arbeiten besitzen aber die Qualitäten, dass sie als Grundstock für ein zukünftiges thurgauisches Kunstmuseum in Frage kommen, wo sie als Leihgaben des Kantons vom thurgauischen Kunstschaffen Zeugnis ablegen können. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die Ankäufe in vorausschauender Weise durch die Erwerbung einzelner (re)präsentativer Werke von thurgauischen Künstlern zu ergänzen.“
Ähnliche Argumentationen finden sich nicht nur für den Ankauf des Bildes „Im Gespräch“ von Carl Roesch, das 1958 für SFr. 1‘500 erworben wurde, sondern auch beim Ankauf des bekannten Selbstporträts von Adolf Dietrich aus dem Jahre 1932, das 1954 für SFr. 2‘000 gekauft wurde, oder das Bild „Zwei tote Säger und Kolbenente in Winterlandschaft“ von 1947, für dessen Erwerb 1963 bereits SFr. 8‘500 aufgewendet wurde.
Professionalisierung der Sammlungstätigkeit
Das Jahr 1963 brachte einen wichtigen Schritt hin zur Professionalisierung der Sammlungstätigkeit des Kantons. Der Regierungsrat setzte eine „Kommission zur Förderung der bildenden Kunst“ ein, die mit einem auf SFr. 15'000.- erhöhten Ankaufsbudget Ankäufe tätigen konnte. Ziel dieser Massnahme war es, „eine gezielte und systematische Kunstförderung“ zu betreiben, da „allmählich an die Anlage einer öffentlichen Kunstsammlung im Kanton Thurgau herangetreten werden muss“. Der Kommission gehörten am Anfang neben drei Kantonsräten, dem Künstler Andrea Nold und dem Präsidenten der Kunstgesellschaft Ernst Mühlemann wichtige Staatsbeamte an, so der kantonale Denkmalpfleger Albert Knöpfli, der Kantonsbaumeister Rudolf Stuckert, der Sekundarschulinspektor Werner Schmid sowie der Staatsarchivar Bruno Meyer. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben war es, der Regierung Kunstwerke zum Ankauf vorzuschlagen. Die Kommission erfüllte in wechselnder Zusammensetzung ihre Aufgaben bis ins Jahr 2002, als sie im Zusammenhang mit der Reorganisation der Kulturaktivitäten des Kantons und der damit einhergehenden Gründung des Kulturamtes aufgelöst wurde.
Die Professionalisierung der Sammlungstätigkeit spiegelt sich in einer Zuspitzung der Ankäufe auf künstlerische Fragestellungen. 1964 wurde das erste ungegenständliche Werk für die Thurgauische Kunstsammlung erworben, das 1961 erstandene Bild „Farbsplitter“ von Helen Dahm, das in einer Ausstellung des Kunstvereins Frauenfeld zu sehen war. Auch in den folgenden Jahren wurden weitere Werke angekauft, in denen sich das Interesse an neuesten Ausdrucksformen der Kunst und insbesondere der gegenstandslosen Malerei manifestierte: 1968 gelangte das Bild „Evolution“ von Rose-Marie Maron als Ankauf aus der Ausstellung der Thurgauischen Künstlergruppe in Arbon in die Sammlung und 1969 das Bild „Dispersion I-69“ von Jürg Schoop.
Für die Sammlungstätigkeit gab es nun klare Richtlinien. In einem Regierungsratsbeschluss vom 15. Oktober 1963 heisst es unter anderem: „Bei Ankäufen und Werkaufträgen sind in erster Linie im Kanton niedergelassene Künstler und Kantonsbürger zu berücksichtigen. Die Vermehrung der Kunstsammlung hat in der Weise zu erfolgen, dass vor allem Werke mit thurgauischen Motiven und Zeugnisse thurgauischen Kunstschaffens aller Zeiten erworben werden.“ Die Verwaltung der Ankäufe oblag dem Staatsarchivar Bruno Meyer, der als Vorstandsmitglied der Thurgauischen Kunstgesellschaft, als Mitglied der Kommission zur Förderung der bildenden Kunst und als Vorsteher des kantonalen Museumsamtes eine Schlüsselposition bei den zukünftigen Ankäufen und deren Verwaltung einnahm. Die Kommission zur Förderung der bildenden Kunst arbeitete gezielt an der Erweiterung der Sammlung und erwarb im Lauf der Jahre wichtige Werkgruppen von Adolf Dietrich, Carl Roesch, Ernst Brühlmann, Ignaz Epper und Helen Dahm.
Museumsprovisorium in Frauenfeld
Je grösser die Sammlung wurde, desto dringlicher stellte sich die Frage, wo die Werke denn aufbewahrt und gezeigt werden sollten. 1971 stiftete die Thurgauer Kantonalbank aus Anlass ihres hundertjährigen Bestehens 1 Million Franken für ein zu schaffendes Kunstmuseum. Damit war die Einrichtung eines Museums in greifbare Nähe gerückt. Der Kanton eröffnete 1973 in der Villa Sonnenberg in Frauenfeld ein provisorisches Museum, für dessen Betreuung der Lehrer Heinrich Ammann als Konservator eingestellt wurde. Mit Ausstellungen über Helen Dahm, Hans Brühlmann, insbesondere aber mit einer ersten Retrospektive über das Schaffen von Adolf Dietrich schuf dieser einen wichtigen Grundstein für die weitere Museumstätigkeit.
Für die Verantwortlichen war bald klar, dass der Museumsbetrieb in Frauenfeld die hochfliegenden Erwartungen an ein Kunstmuseum nicht zu erfüllen vermochte. Bruno Meyer fasst in einem Typoskript von 1974 die kritischen Stimmen zusammen:
„Die Eröffnung des Provisoriums des Kunstmuseums im Haus Sonnenberg in Frauenfeld bedeutet nur einen ersten Anfang. Wer all die vielen vergeblichen Bestrebungen zur Schaffung eines thurgauischen Kunstmuseum im letzten halben Jahrhundert vor Augen hat, wird über das Erreichte froh sein und mit neuer Hoffnung in die Zukunft blicken. Wer als Kunstfreund die grossen Museen des In- und Auslandes besucht und damit den „Sonnenberg“ vergleicht, wird seiner starken Enttäuschung Ausdruck geben. Es muss mit aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass bewusst ein Provisorium erstellt wurde, um von ihm aus die Schaffung eines endgültigen Kunstmuseums vorzubereiten. Die erste Wegstrecke bildete die Sammlung ei--nes genügenden Grundbestandes an Kunstwerken. Sie wurde vor rund drei Jahrzehnten begonnen und seit zehn Jahren zielgewusst gefördert. Die zweite sollte zum Kunstmuseum führen und beginnt jetzt mit der Schaffung des Provisoriums.“
1977 erfuhren die Museumspläne einen unvorhersehbaren Entwicklungsschub. Mit der Gründung der Stiftung Kartause Ittingen und der Erarbeitung eines neuen Betriebskonzeptes für die ehemalige Klosteranlage war bald klar, dass das Kunstmuseum als Partnerbetrieb Teil dieses attraktiven Kulturzentrums werden sollte.
Ein Zentrum der Aussenseiterkunst
Spätestens dann, als sich die Möglichkeiten eines Kunstmuseums in der Kartause Ittingen abzeichneten, setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine rein auf regionale Kunst abstützende Sammlung langfristig zu wenig attraktiv ist. Aus diesem Grund wurde ab 1975 auf das Betreiben von Ernst Mühlemann hin um die Werkgruppe von Adolf Dietrich ein Schwerpunktgebiet „Internationale naive Kunst“ geschaffen. Als eines der ersten Werke wurde 1975 ein Hinterglasbild des Kroaten Josip Mrvčić erworben. Weitere Bilder der damals hoch im Kurs stehenden kroatischen Naiven Vilma Doresic und Dragan Bobovec folgten. Bis in die frühen Neunzigerjahre wurden bedeutende Werkgruppen vor allem französischer Naiver wie Camille Bombois, André Bauchant oder Emeric Feješ angekauft, so dass sich heute einige auserlesene Bilder dieser Zeitgenossen Picassos und Le Corbusiers in der Thurgauischen Kunstsammlung finden. Für den Erwerb von André Bauchants „Schlacht bei den Thermophylen“ wurde 1989 der stattliche Betrag von SFr 126‘000 aufgewendet.
Allerdings zeigte sich, dass die finanziellen Rahmenbedingungen nicht genügten, um Werke des bedeutendsten Naiven, Henri Rousseau, anzukaufen, wodurch diesem Sammlungsteil ein Höhe- und Mittelpunkt fehlte. Um diesen Mangel auszugleichen, wurde seit den frühen Neunzigerjahren die ursprünglich strikte Konzentration auf die „reinen Naiven“ aufgebrochen. Die Sammlungstätigkeit wurde geöffnet hin zur „Aussenseiterkunst“, die neben den Naiven auch die art brut oder das Schaffen von „Lebenskunstwerkern“ umfasst. Im Lauf der Jahre konnten wichtige Bilder oder Zeichnungsserien von Jakob Greuter, Josef Wittlich, Theo (Wagemann) oder François Burland erworben werden.
Dieses Engagement für Aussenseiter brachte Mitte der 90er Jahre einen unverhofften Gewinn. Hans Krüsi hinterliess bei seinem Tod 1995 dem Kunstmuseum Thurgau seinen Nachlass. Die Erbschaft umfasste Tausende von Werken, wodurch die Sammlung der Aussenseiterkunst einen neuen, attraktiven Schwerpunkt erhielt. Das Wagnis der Übernahme des Nachlasses von Hans Krüsi konnte eingegangen werden, weil bereits 1994 der gesamte Dietrich-Nachlass als Depositum der Thurgauischen Kunstgesellschaft ins Museum gelangt war, wodurch entsprechende Erfahrungen im Umgang mit Nachlässen bestanden.
Internationale Gegenwartskunst – vor Ort konzipiert
Die letzten Ausstellungsräume dokumentieren die Öffnung zur internationalen Gegenwartskunst. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben weltweit renommierte Positionen wie Jenny Holzer, Janet Cardiff (Audioguide „Ittingen Walk“), Joseph Kosuth („Eine verstummte Bibliothek“ im Unteren Keller) oder Tadashi Kawamata („Scheiterturm“ im Aussenraum) für das ehemalige Kloster ortsspezifische Werke kon¬zipiert.
Die zweite Jubiläums-Sammlungspräsentation „Konstellation 6. Begriffe, Räume und Prozesse“ wird im Herbst 2013 fortgesetzt. Sie widmet sich installativen Arbeiten und neuen Medien der letzten Jahr