Direkt zum Inhalt springen
  • Drucken
  • Sitemap
  • Schriftgrösse

Willi, Tober

Um es mit Adolf Dietrich zu sagen: Da isch eifach suusiecheschö!

Vernissagerede zur Ausstellung "Adolf Dietrich - Mondschein über dem See"

SelbstbildnisHandorgel.jpg
Adolf Dietrich, "Selbstbildnis mit Handorgel", 1914, Kunstmuseum Thurgau
Dietrichbalbo
Adolf Dietrich: Balbo © Thurgauische Kunstgesellschaft / Pro Litteris
SB9_9_frei.jpg
SB9_9_frei.jpg
Willi Tobler, Vorstandsmitglied der Thurgauischen Kunstgesellschaft hielt am 27. August 2017 im Kunstmuseum Thurgau vor über dreihundert Zuhörerinnen und Zuhörern eine fulminante Einführungsrede zur Ausstellung "Adolf Dietrich - Mondschein über dem See". Sehr geehrte Damen und Herren

Vor etwas mehr als 50 Jahren bin ich zum ersten Mal einem Bild von Adolf Dietrich begegnet. Unser damaliger Deutschlehrer am Seminar Kreuzlingen, der nachmalige schweizerische Schattenaussenminister Ernst Mühlemann führte uns vor ein grosses Bild, auf dem ein noch grösserer Hund abgebildet war. Der Hund - mit gekreuzten Vorderpfoten - schien ausgeschnitten und auf eine Wiesenlandschaft geklebt, im Hintergrund sah man ein Dorf, eine hochaufragende Pappel, einen See und einen Höhenzug am gegenüberliegenden Ufer. Und der Hund – ich habe es ganz genau gesehen - hat mich angeschaut und mir mit seinem treuherzigen Blick meine Hundephobie für immer genommen. Es erging mir wie wohl den meisten, die dieses Bild einmal zu Gesicht bekommen haben: Es hat sich in mein Bildgedächtnis eingeprägt. Ich vergesse es nicht mehr.

Alle Schulkinder im Kanton Thurgau werden diesen Hund einmal gesehen haben und Balbo müsste zuoberst auf der Kandidatenliste stehen, falls Sie, Frau Regierungsrätin, für den Kanton Thurgau einmal ein neues Wappentier suchen sollten.

Den Namen des Künstlers hätte ich vielleicht vergessen, sicher wäre ich ihm nicht so häufig begegnet, wenn ich an jener Schule nicht eine Mitschülerin kennen gelernt hätte, welche die Tochter von Heinrich Ammann war. Heinrich Ammann hat die erste umfassende Dietrich-Biografie geschrieben. Er hat sich sein Leben lang mit Dietrich beschäftigt, hat ihn persönlich gekannt, hat alle wichtigen Daten und Fakten zum Leben und zum Werk von A.D., zusammengetragen, jedem Bild hat er nachgespürt und alle Informationen nicht etwa in einem Computer, sondern in roten Schulordnern festgehalten.

Seine Arbeit lieferte schliesslich die Grundlagen für den Werkkatalog. Wer sich mit Dietrich beschäftigt, kann immer noch auf das Wissen von Heinrich Ammann zurückgreifen. Ich möchte ihm an dieser Stelle postum ein Kränzchen winden für die immense Arbeit und für seine grossen Verdienste, für sein Lebenswerk, das er dem Lebenswerk von A.D. gewidmet hat.

Jene Mitschülerin ist meine Ehefrau geworden und im Hause meiner Schwiegereltern habe ich erstmals Dietrichs Skizzenbücher zu Gesicht bekommen. Die kleinformatigen, fragilen Büchlein haben mich schon durch ihr Äusseres aufmerken lassen und als mir ein Einblick gewährt wurde, wenn auch nur ein dosierter, habe ich mich mit dem Dietrich-Virus infiziert. Und nun nach einer 50-jährigen Inkubationszeit darf ich – als berufsfremder Fötzel gewissermassen - diese Ausstellung mit eröffnen, darf der Publikation einen Text beisteuern und einige Worte an Sie richten. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit, mit einem gewissen Stolz – ich muss es zugeben – und mit grosser Freude. Um es mit Adolf Dietrich zu sagen: Da isch eifach suusiecheschö!

Seit ich mich mit Adolf Dietrich befasse, führten mich seine Bilder immer zu Begegnungen mit Menschen. Das liegt an diesen Bildern, denen eine integrative Kraft innewohnt, denen alles Exklusive abgeht und alles Abweisende fremd ist.

Ernst Nägeli, der zu jenem bekannten Dietrich-Bild die schöne Mundartgeschichte „De Schiffbruch vo Berlinge“ geschrieben hat, bemerkte in seinem Nachruf in der TZ vom 5. Juni 1957, dass in Dietrichs Malstube die Seefischer aus Berlingen ebenso verweilten wie die Bilderfischer aus den Grossstädten. Vor Dietrichs Bildern begegnet der Intellektuelle dem einfachen Mann, die Grossmutter der Enkelin, der Bauer dem städtischen Schöngeist. Dietrichs Bilder sind eigentliche Begegnungsbilder, denn sie selber erzählen immer auch von Begegnungen – die Intensität, der Respekt und die Achtsamkeit, mit der Dietrich den Menschen, den Tieren, der toten Natur, der Landschaft begegnete, übertragen sich auf alle Betrachter gleichermassen.

Immer stiess ich über Dietrichs Bilder auf Menschen, auf Orte und Örtlichkeiten. Ich lernte Verwandte von Adolf Dietrich kennen, die z.T. noch in Berlingen leben, ich traf Menschen, die Dietrich noch gekannt haben und von ihm zu berichten wissen, z.B. der ehemalige Käser aus Fruthwilen, der als Jugendlicher den Hund Balbo mehrmals nach Berlingen in Dietrichs Malstube gebracht hatte, damit das Tier dem Maler Modell sitzen, beziehungsweise liegen konnte. (Damit erklärt sich auch, weshalb der Hund nicht so recht in der Wiese sitzen will, weil er nämlich eine typisch Dietrichsche Selbstkopie des 5 Jahre früher entstandenen Stubenboden-Hundes ist.)

Ich lernte Berlingen kennen, dieses schöne, eigenwillige Dorf auf der kleinen Landzunge am Untersee, dessen Einwohner „Esel“ genannt werden, während die auf der napoleonischen Anhöhe wohnenden Salensteiner sich auf edle Pferde berufen und „Araber“ heissen.

Und lassen Sie mich kurz von den Begegnungen berichten, die sich im Zusammenhang mit dieser Ausstellung und der Publikation ergaben:

Ich bin als ahnungsloser Neuling mit dem Museums-Betrieb vertraut geworden und traf auf ein eingespieltes Team: Sekretariatsmitarbeiterinnen, Museumspädagoginnen, Restauratorinnen, die Aufsichtspersonen, die eher im Hinter- und im Untergrund arbeitenden technisch und handwerklich versierten Menschen, sie alle haben in konzentrierter Arbeit diese Ausstellung nach und nach auf die Beine gestellt und das Hämmern und Bohren und Bockleiternrücken wurde zu einem Crescendo und verstummte mehr und mehr und am Schluss war es ganz still in den Räumen und sie konnten zufrieden sein und staunen vor den Bildern und Zeichnungen, die sie aufgehängt hatten.

Ich erlebte eine junge Kunsthistorikerin, die mit Zähigkeit und Zuverlässigkeit an diesem Projekt gearbeitet, die kunsthistorische Knochenarbeit kennen gelernt und sich einiges abgefordert hat. Sie ist – ebenso wie die junge Restauratorin, die mit zunehmender Bewunderung die Zustandsprotokolle verfasst hat - ein weiteres Beispiel dafür, dass Adolf Dietrich auch junge Menschen anzusprechen und zu begeistern vermag. Die Bilder von Dietrich finden sie mitunter einfach „Hammer“.

Dietrich kann eben immer wieder neu und anders gesehen, seine Arbeit immer wieder neu gewichtet werden. Ein für allemal lässt er sich einfach nicht in einer kunsthistorischen Schublade versorgen. Worin die Wirkung seiner Bilder liegt, ist letztlich nicht zu erklären und das ist gut so. Das lässt den Dietrich-Viren weiterhin die Möglichkeit, auch kommende Generationen zu infizieren.

Ich habe einen Museumsdirektor kennen gelernt, der mir mit Offenheit und Hilfsbereitschaft begegnet ist, der sich gehörig ins Zeug gelegt hat für dieses Projekt, der sich verausgabt hat, der die Fäden doch immer in der Hand behielt, zeitweilig mit einer geradezu atemberaubenden Gelassenheit.

Ich bin mit dem Buchprojekt Berufsleuten begegnet, die mich alle - von den Lektorinnen über den Buchgestalter bis zum Druckerei-Team - mit ihrem kompromisslosen Qualitätsanspruch und ihrer grossen Sachkompetenz beeindruckt und begeistert haben.

Vor diesem Ausstellungsprojekt hatte ich die Skizzenbücher zwischenzeitlich aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn verloren - und vor ungefähr drei Jahren habe ich angefangen, sie Seite für Seite zu fotografieren. In den Skizzenbüchern begegnete ich einem unkonventionellen Menschen, einem einfallsreichen Künstler, einem sensiblen, virtuosen Zeichner, der mit offenen Augen und wachem Geist durch die Welt ging. Die Büchlein geben Aufschluss über Dietrichs bevorzugte Themen, über seine Ausflüge und Aufenthalte an fremden Orten und über sein zeichnerisches Repertoire, welches er sich als Autodidakt angeeignet hatte. Sie enthalten die originären Erzeugnisse seines künstlerischen Schaffens, in denen sich letztlich auch seine Persönlichkeit und seine Lebensgeschichte spiegeln.

Zwischen 1906 und 1941 hat Dietrich rund 800 zeichnerische Eintragungen gemacht. Von diesen sind weit mehr als die Hälfte Landschaftszeichnungen und von diesen wiederum zeigen die allermeisten das Dorf und die Umgebung von Berlingen.

Dietrich hat alles, was er malen wollte, in seine Stube geholt: die Vögel, die Stopfpräparate, die Meerschweinchen, die Fülleman-Kinder, die Blumen und den Blumenkohl, Balbo, .... aber die Landschaften? Der Maler, der die Unterseelandschaft in so eindrücklichen Bildern festgehalten hat, besass keine Staffelei und war kein Pleinair-Maler. Um die Landschaften einzufangen, musste er sich hinaus in die Landschaft begeben. Dabei benutzte er die Skizzenbücher als Staffelei im Taschenformat. Mit ihnen umkreiste er Berlingen und zeichnete unentwegt. Um die Totalität seiner Eindrücke festzuhalten, musste er die Bleistift-Zeichnungen mit Farbvermerken, mit Angaben zu den Lichtverhältnissen, mit Notizen zur vorherrschenden Stimmung versehen, musste Bäume und Sträucher benennen. Die Farbvermerke beschränkten sich dabei keineswegs auf die bekannten lapidaren Formulierungen wie „ Gras grün - Himmel blau“. Sein feines Farbempfinden führte ihn zu differenzierten Farbangaben. Auf einer Gartenskizze beispielsweise hat er verschiedene Rottöne aufgelistet: „feuerrot, blaurot, weinrot, dunkel- und hellrot, zinnoberrot, mittelrot, fleischrot, schön rot“.

Manchmal beschrieb er die Landschaften nur mit Worten und evoziert so im Leser innere Landschaftsbilder:

„3. Dezember, Burst,
Morgen in Stille,
lichter, farbiger Morgenhimmel,
auch die Bäume,
hellrosa Wölkchen, grüngelb, violett,
etwas Nebel,
Mondschein.“

Die Landschaftsskizzen sind die unabdingbare Voraussetzung für Dietrichs Landschaftsbilder, sie bilden das Quellgebiet seiner gesamten Landschaftsmalerei. Dietrich hält sich in den Skizzen ganz genau an die Vorgaben der Natur, aber es sind nicht etwa simple Abziehbildchen, die er da kreiert, sondern schon diese Zeichnungen sind bewusst gestaltete, in seine ureigene Zeichensprache übersetzte Erzeugnisse.

In den Skizzen erkennt man nicht nur Dietrichs nüchternen Blick, sondern auch seine unmittelbare Leidenschaft, sein Staunen, seine Begeisterung, seine Emotionalität. In den Skizzen ist das Gewitter, der Blitz und der Donner, während zu Hause am Maltisch ein sanfter, gleichförmiger Landregen niedergeht.

Dietrich suchte immer wieder die gleichen Plätze und Aussichtspunkte auf und in seinen Skizzenbüchern bin ich diesen Örtlichkeiten mit den wundersamen Flurnamen begegnet: Schtangerüti, Guggemörli, Chrischtisepni, Pfarrwiis, Zuelauf, Schmellert, Burscht, Tonisacker, Tischmächerli, Langenägete, und meinen phonetisch-lautmalerischen Lieblingsplätzen Reckholderebüel und Franzhanesseloch.

Mit der Zeit lernte Dietrich die Landschaften auswendig, par coeur, verinnerlichte sie. Und in den Skizzenbüchern und in seinen Erinnerungen brachte er letztlich auch die Landschaften in seine Malstube, um sie dort am Tisch in einem kontrollierten, planmässigen Gestaltungsprozess der Natur zu entreissen und in Kunstwerke zu verwandeln.

In den Skizzenbüchern finden sich ausser den Zeichnungen auch Adressen, Bilder- und Preislisten, Planskizzen für Tierfallen, die Erträge seiner Weinernte, Tagebucheinträge. Gelegentlich durften Kinder in die Büchlein malen und eine Spielerrunde benutzte ein Skizzenbuch auch schon mal als Jasstafel, um die erreichten Punktzahlen zu notieren.

Dass die Skizzenbücher ihm auch als Verkaufskataloge dienten, ist bekannt. Wir haben in der Ausstellung ein schlagendes Beispiel dafür. Zu einer Landschaftszeichnung, die Dietrich am 1. Mai 1928 anfertigte, schrieb ein Kaufinteressent am 6. Februar 1931:

„Zur Anfertigung für Gustav Schneider, Ludwigshafen, Rheinstrasse; gewünscht bis zum 1. Mai 1931.“

Und Dietrich hat das Bild 1931 tatsächlich gemalt - ob er es auch termingerecht abgeliefert hat, wissen wir nicht.

In seinen letzten Lebensjahren waren ihm die Skizzenbücher auch Erinnerungsalben und eine Art Gesprächspartner, dem er seine Erlebnisse und Gedanken anvertraute. Offensichtlich blätterte er an seinem Lebensende häufig in den Skizzenbüchern und liess in ihnen sein Leben Revue passieren. Dann und wann machte er Erinnerungsvermerke. „Nähe Reinhard-Museum Winterthur Lutz im Sternen getroffen“, steht da etwa, oder er vermerkte auf einer Skizze aus dem Jahr 1927: „30 Jahre her“ und auf einer luftigen Zeichnung, die er an Neujahr 1925 angefertigt hatte, schrieb er 1956: „Schön gewesen, hell, Tannen dunkel“.

Nachdem Dietrich oft entlang seiner Biografie, in seiner kauzigen Art beschrieben und als unverdorbener, holzhackender Sonntagsmaler verklärt worden ist, haben die Kunsthistoriker längst – zu Recht - das Werk dieses aussergewöhnlichen Künstlers ins Zentrum gerückt, - „endlich“ wie Markus Landert beinahe aufatmend in einem Beitrag schreibt - sodass man wieder einmal eine Anekdote erzählen darf, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Zum Beispiel diese:

Dietrich schrieb an Hans Baumgartner eine seiner berühmten neutralen, beigefarbenen Postkarten, eng beschrieben, bis an den Blattrand hinaus gefüllt. Am Ende entschuldigte er sich für die beinahe unleserliche Schrift. Das sei auf das Zittern seiner Hände zurückzuführen und er fügte hinzu – beim Malen spiele dies keine Rolle.

Und noch eine letzte Begegnungsgeschichte:

Die Absolventinnen des Haushaltlehrerinenseminars Bern besuchten Dietrich, der ihnen Einblick gewährte in sein Leben und in sein Schaffen. In einem Dankesbrief an Dietrich schrieben sie: „Der Geist der Wahrheit und der Reinheit, dem Sie in Ihrer Kunst dienen, hat uns alle beeindruckt; wir werden auf unsere Art an unserem Platz dasselbe zu tun versuchen“ – und natürlich legten sie ihm eine perfekt gebackene Berner Züpfe bei.

Als Mensch hat uns Dietrich eine Botschaft hinterlassen, die etwa lauten könnte: Du kannst etwas machen aus deinem Leben, auch wenn du nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wirst.

Als Künstler hat er uns eindrückliche, unvergleichliche, unvergessliche Bilder hinterlassen wie eben den Balbo.

Ich wünsche Ihnen ein paar schöne Begegnungen in der Ausstellung und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Willi Tobler

Ausstellungen