Landert, Markus
Der Ittingen-Walk von Janet Cardiff
Eine Art Erlebnisbericht
Im Verkaufraum des Museums herrscht reger Betrieb. Das Telefon klingelt. Besucherinnen und Besucher blättern in den Büchern und unterhalten sich. Das Kassenpersonal gibt Auskunft und unterhält sich über die Verkaufsartikel. Plötzlich spricht sie zu mir, die geheimnisvolle Begleiterin. „Do you ever feel invisible? Like you’ve fallen through a hole in time and no one can see you anymore?” Sie scheint unmittelbar hinter mir zu stehen, unsichtbar für alle anderen. „I’m going into the museum. I’d like you to walk with me,“ lädt sie mich ein und nimmt mich mit hinaus in den kühlen Korridor.
Wir gehen zusammen. Sie ist ganz nahe. „I’m glad you’re walking with me. This place is full of ghosts”. Es ist nicht ganz einfach, Schritt zu halten mit ihr. Sie schreitet zielstrebig vorwärts, über ein paar Treppenstufen hinab hinein ins Fehr-Zimmer, das an die Familie erinnert, die nach der Aufhebung des Klosters während Jahrzehnten in den repräsentativen Räumlichkeiten der Mönche wohnte. Sie zeigt mir eine Fotografie, die an der Wand hängt: Familie Fehr beim Essen im Kreuzgarten, eine längst vergangene Idylle.
Dann weiter durch eine Türe. Wir stehen in einem Verschlag. Zusammengeklappte Tische verstellen das Räumchen, eine Kaffeemaschine steht vor einem grossen Spiegel. Es ist eng und ein bisschen schäbig. Auch ein Museum hat also seine Zwischenräume, kleine versteckte Winkel, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Hier erweist sich der in den Museumsräumen so sorgfältig produzierte Eindruck von Vergangenheit als Illusion, als Kulisse. „Look into the mirror,” meint meine Begleiterin. “You can see the outdoors, the other world. Now there are two windows, two kitchens, two coffee makers and two of you. Isn’t it funny that the only way to see yourself is by looking into another world.” Nur meine Begleiterin ist nicht zu sehen, obwohl ich ganz sicher bin, dass sie ganz nahe bei mir ist, gleich hinter mir, so dass mir ihr Atem gleichsam über den Nacken zu streichen scheint. Von welcher Welt spricht sie denn überhaupt? Vom Museum oder seinen Zwischenräumen? Von der wirklichen Wirklichkeit draussen vor dem Fenster oder von der Wirklichkeit im Spiegel? Welches ist die andere Welt?
Plötzlich ist da noch ein Mann. Er redet vom Alleinsein, wie es ist, wenn Stille erdrückend wirkt, wenn das kleinste Geräusch Bedeutung gewinnt. Doch wir gehen weiter ins Refektorium, den reich ausgestatteten Essraum der Mönche. An den Wänden hängen Bilder von bedeutenden Kartäusermönchen, vom Heiligen Bruno, dem Ordensgründer, oder von Hugo von Grenoble, seinem Schirmherrn und Förderer. Auf der Täfelung Bilder von Einsiedlern, auch sie wichtige Vorbilder der Kartäusermönche, die bei Tisch sitzen und tafeln. Reden tun sie nicht beim Essen. Kartäusermönche legen beim Eintritt ins Kloster ein strenges Schweigegelübde ab. Nur einmal pro Woche erlauben sie sich zu sprechen. Einer der Mönche liest aus einem Buch vor, auf lateinisch. Ich verstehe nichts und meine Begleiterin drängt mich flüsternd aus dem Raum, weiter in den Kreuzgang hinaus. Was sagt der Mann? „The sound of my memories inside my head.” Wer ist diese geheimnisvolle Person, die von Einsamkeit, Schweigen, Erinnerung und Sehnsucht spricht? Ein Mönch oder der Liebhaber meiner Begleiterin? Mein alter ego gar?
Im Kreuzgang riecht es leicht modrig. Am Boden haben rote Tonziegel die Sandsteinplatten abgelöst. Die selbstgebrannten Ziegelsteine waren wohl billiger als die dicken Platten aus dem Steinbruch, hier im grossen Kreuzgang, der die fünfzehn einzelnen Wohnzellen der Mönche miteinander verbindet. Noch mal begegnen wir den Mönchen. Sie ziehen singend an uns vorbei. Die Sonne scheint. Es herrscht ein angenehmes, weiches Licht. „I can see my shadow against the wall, walking with me,” behauptet meine Begleiterin. Ihren Schatten sieht sie? Und wo ist meiner? Hat sie mir den Schatten gestohlen, so wie einst der Teufel dem Peter Schlemihl? Ich kann nur einen Schatten sehen.
Wir treten ein in eine Mönchszelle. Ich schaue aus dem Fenster, höre ein Flugzeug, aber nichts ist zu sehen. Auch der Mönch, der die Treppe vom Estrich hinuntersteigt, tritt nicht durch die Türe. „Was ist real? Was nicht? Wo bin ich?“ frage ich mich und zerre den Kopfhörer von den Ohren. Alles ist noch da: die Mönchszelle mit Tisch, Bett und Kreuz, scheinbar unberührt, wie wenn der Mönch gerade erst gestern ausgezogen wäre. Ich bin wieder ganz im Museum, das vor rund zwanzig Jahren als einer der attraktivsten historischen Orte in der Schweiz der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Die Kartause Ittingen war zwar nur ein kleines Kloster, in dem zwischen 1461 und 1848 gleichzeitig maximal 15 Mönche lebten, und auch die historische Bedeutung ist eher gering. Als wichtigstes Ereignis in seiner Geschichte gilt der Ittinger Sturm 1524, in dessen Verlauf die Bauern der Umgebung die Klostergebäude plünderten und anzündeten. Was die Mönche im 17. und 18. Jahrhundert allerdings wieder aufbauten ist heute noch weitgehend unversehrt erhalten, so dass die Anlage einen authentischen Einblick in den längst vergangenen Alltag und die elegante Barockkultur der Kartäusermönche gewährt.
Bei der Einrichtung des Museums 1984 wurde neben dem kulturhistorischen Bereich auch ein Kunstmuseum in Betrieb genommen. Wichtiger Sammlungsauftrag dieses Kunstmuseums ist der Erwerb von Werken, die die Kartause Ittingen zeitgenössisch interpretieren und sichtbar machen. Mit dem „Ittingen Walk“ von Janet Cardiff ist im Winter 1991/92 ein Kunstwerk entstanden, das mit zeitgenössischen Mitteln den historischen Ort auf unkonventionelle Art und Weise erleben lässt. Der „Ittingen Walk“ schiebt zusätzliche Realitätsebenen in die historische Szenerie. Diese begleiten, überlagern und irritieren das Vorhandene nachhaltig. Sobald die CD läuft, der Kopfhörer auf ist, wird die sichtbare Welt eine andere, kompliziertere, eine Realität voller Brüche. Umfangen von der Geräuschkulisse des Kunstwerks blicken wir wie aus einem anderen Ort auf die Welt. Wir verlieren uns in einem Raum, der gleichermassen real und unreal ist. So setze ich den Kopfhörer wieder auf, folge meiner Begleiterin, weiter aus der Mönchszelle auf eine Sitzbank im Kreuzgarten. Sie macht mich auf die Familie Fehr aufmerksam, die unter einem Apfelbaum ihr Essen einnimmt. Vor meinen Augen scheint die Fotografie wieder auf, die wir vor einigen Minuten betrachtet haben. So war das damals also. Dann plötzlich ein Knallen und Knistern, Feuer und Sturmglocke, Flugzeuge und Pferde. Gewalt bricht ein in die Idylle. Krieg heute oder Ittinger Sturm 1524? Auf dem „Ittingen Walk“ verschieben sich die Zeiten ebenso wie die Räume.
Und weiter durch den Garten zum versteckten Hintereingang in den Museumskeller. Durch einen engen, dunklen Lagerbereich schleichen wir uns in einen Ausstellungsraum des Kunstmuseums. „I read that the family used to grow mushrooms down here. Imagine how it must have smelt in the dark. Feet walking through earth”. Wie ganz anders präsentiert sich der klimatisierte und hell erleuchtete Museumsraum mit seinen Kunstwerken heute! Was für ein Unterschied zwischen Imagination und Realität, Vergangenheit und Gegenwart. Dann geht’s Treppen hoch über Gänge und um Ecken. Ich verliere die Orientierung in den verschachtelten Räumen und muss mich ganz auf meine Begleiterin verlassen. Sie führt mich in einen kleinen, versteckten Verschlag, der fast ganz ausgefüllt ist von einem Archivschrank mit vielen leeren Schubladen. Ich öffne die eine oder andere und höre meiner Begleiterin zu: „All these empty drawers. They’re like perfect little worlds. Little boxes of forgotten air. I just remembered a dream from last night. I was looking down a deep water well into darkness. A man was kissing me softly on the lips, then I woke up. Close the drawer. Now that dream is in there.” Ein Traumarchiv im Kloster.
Ein Blick von der Empore in die Klosterkirche mit ihren fröhlichen Stuckaturen und den Fresken, die vom Heiligen Bruno erzählen. Dann gehen wir weiter durch verwinkelte Räume, eine kleine, steile Treppe hinunter, durch Gänge und Korridore, um uns ganz am Ende im Chor der Kapelle wiederzufinden. Die Mönche singen und ziehen an uns vorbei. Sie verlassen uns. „I imagine them going to their rooms, the sound of their own bodies the only thing to keep them company. We have to go now too. Good bye.” Und ich sitze allein in der Kirche. Meine Begleiterin ist verschwunden so geheimnisvoll wie sie erschienen ist. Sie lässt mich allein zurück in einer Realität, die reicher geworden ist durch eine aussergewöhnliche Erfahrung. Ich lebte für kurze Zeit wie in einem Film, oder eher wie in einem Traum und wenngleich ich den CD-Player an der Kasse zurück gebe, behält die Welt nach dem Gang durchs Kloster wenigstens einen Hauch von Traumhaftigkeit und Irrealität. Mir aber bleibt eine Ahnung von der Zerbrechlichkeit und Scheinhaftigkeit dessen, was wir üblicherweise Realität nennen, und das Wissen von der Kraft der Imagination.
Text: Publikation "Janet Cardiff: ...", Sommer 2005