Moralische Fantasien
8. Juni 2008 – 26. Oktober 2008
Künstlerische Strategien in Zusammenhang mit der Klimaerwärmung
Der Titel der Ausstellung entstammt einer Publikation des Kulturkritikers Günther Anders, die er 1956 angesichts der akuten atomaren Bedrohung geschrieben hatte. Er beobachtete damals eine „Apokalypseblindheit des Menschen“:, „Trotz der, historisch gesehen, grössten Bedrohung, vor der die Menschheit je gestanden hat“, empfand sich der Autor in einem „Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“, und stellte fest, dass „Angst nicht mehr gefühlt“ werde, sondern höchstens als „publizistische Marktware“ noch eine Rolle spiele. Die Gründe für diese Apokalypseblindheit sah er - neben der Fortschrittsgläubigkeit und der Entfremdung der Arbeitenden von ihren eigenen Produkten - in einem „prometheischen Gefälle“ zwischen dem menschlichen Vermögen des Machens und des Fühlens.Anders zog daraus eine Konsequenz, welche die Kunst vor enorme Aufgaben stellt und im wahrsten Sinne des Wortes (wieder) „notwendig“ macht. Der Autor formulierte es so: „Wenn dem so ist, dann besteht, sofern nicht alles verloren sein soll, die heute entscheidende moralische Aufgabe in der Ausbildung der moralischen Phantasie, d. h. in dem Versuche das „Gefälle“ zu überwinden, die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Grössenmassen unserer eigenen Produkte und dem absehbaren Ausmass dessen, was wir anrichten können, anzumessen.“ Und diese Ausbildung könne, so Anders, gerade von der Kunst vorangetrieben werden, denn im „Gebiete der Kunst und Musik“ ... „im Bereich der Phantasie, hat man uns Freiheit gelassen; während man uns im Bereich der Freiheit, also der Moral, die Phantasie beschnitten hat“.
Was aber zeichnet die „moralische Phantasie“ aus? Es geht darum, mit Hilfe von „Experimenten“, von „moralischen Streckübungen“ und „Überdehnungen der gewohnten Phantasie und Gefühlsleistungen“ das „Übermass (des Herstellens – d. Ref.) einzuholen“. Einholen in dem Sinne, dass man sich das bisher Unvorgestellte und Ungefühlte „ vorsagt“, um es dann wie eine ausgeworfene Leine „zurückzuholen“ in unser Fühlen.
Auch heute scheint eine wirkliche Angst vor den Auswirkungen der Klimaveränderung nicht vorhanden. Vielmehr ist, so Tim Flannery in seinem Buch „Wir Wettermacher“ (2005), die Klimakatastrophe, die nicht zufällig von den Massenmedien meist als „Klimawandel“ verharmlost wird, bereits „zu einem Klischee geworden, noch ehe man sie richtig verstanden hat“.
Die Ausstellung „Moralische Fantasien“ ist ein gemeinsames Ausstellungsprojekt des Berliner Ausstellungsmachers und Kritikers Raimar Stange und der Museumskuratorin Dorothee Messmer. Die Ausstellung umfasst 23 Positionen und wird in den Räumen des Kunstmuseums Thurgau ausgerichtet.
Die besondere örtliche Situation der Ausstellungsräume legt die Auseinandersetzung mit dem Thema nahe, denn das Kunstmuseum Thurgau ist Teil einer Klosteranlage, die im 19. Jahrhundert säkularisiert wurde und heute im Besitz einer privatrechtlichen Stiftung ist, die auf dem Gelände einen Seminarbetrieb mit Hotel führt und einen Bauernhof betreibt. Die Kartause ist nicht nur ein Museum, sondern ein vielfältig genutzter, historischer Gebäudekomplex, in dem kommerzielle, touristische und kulturelle Tätigkeiten synergetisch zusammenwirken. Eine zentrale Rolle spielt dabei ihre idyllische Lage am Flusslauf der Thur, und die sorgsam kultivierte Gartenanlage. Die intakten Klostermauern definieren einen geschlossenen Raum, einen „hortus conclusus“ oder Paradiesgarten, der als zusammenhängender, geschützter Bereich erfahren wird. Abgegrenzt durch den Mauerring entfaltet sich eine heile Welt, in der die historischen Gebäude von einer scheinbar unkomplizierten und überschaubaren Vergangenheit Zeugnis ablegen.
Diese besondere Situation, die Beschaffenheit des Ortes mit seinen verschiedenen Gartenanlagen und die idyllische Lage gaben den Anstoss zum Thema des Projektes, das sich mit der Bedrohung dieser „heilen“ Natur auseinandersetzt. Einige Projekte werden deshalb direkt vor Ort - im Aussenbereich des Klosters - hergestellt, und mehrere eingeladene Kunstschaffende schaffen Werke, die in Zusammenhang mit dem Projekt neu entstehen. Neben bereits bestehenden Arbeiten, die in Absprache mit den KünstlerInnen in die Ausstellung gelangen, werden auch nicht umgesetzte, geplante oder erfolgte Ideen im Modell vorgestellt.