Joseph Kosuth: Eine verstummte Bibliothek
14. November 1999 – 11. März 2001
Die Ittinger Bibliothek gehörte zusammen mit den Bücherschätzen des Klosters Fischingen und der Augustinerpropstei Kreuzlingen zu den wenigen reich bestückten Büchersammlungen im Kanton Thurgau. Tausende von Büchern lagerten wohlgeordnet in einem Raum über der Sakristei des Klosters. 1848 wurden im Thurgau durch einen Regierungsentscheid die Klöster aufgehoben. Alle Besitztümer der Orden, Gebäude und Ländereien ebenso wie die liturgischen Geräte oder das Finanzvermögen fielen an den Staat. Die Klosterbibliothek erlitt das gleiche Schicksal. Der junge Kanton Thurgau wusste nicht recht, was er mit den ihm anvertrauten Büchern anfangen sollte. Nach längerem hin und her wurden Teile der Klosterbibliothek verkauft und verschenkt, wichtige Bücher aber der Kantonsbibliothek einverleibt, wo sie bis heute sorgfältig gehütet werden. Es lässt sich nicht genau bestimmen, wie viele Bücher bei der Bibliotheksauflösung in Ittingen verschwunden sind. Mit Bestimmtheit aber kann gesagt werden, dass die Ittinger Klosterbibliothek als Arbeitsinstrument nicht mehr funktionierte. Die Klosterbibliothek als Organisation des Wissens, als Instrument der Bedeutungsschöpfung, ist verstummt.
Der amerikanische Künstler Joseph Kosuth bezieht sich in seiner eigens für den grossen Ausstellungskeller der Kartause Ittingen entwickelten Arbeit auf den Verlust an Ordnung und Wissen, die mit dem Auflösungsprozess der Bibliotheken verbunden war. Er bringt die verstummte Bibliothek an ihren ursprünglichen Ort zurück, indem er das Inhaltsverzeichnis des Bibliothekskatalogs von 1717 in den Boden des Ausstellungsraumes eingraviert. Der Bibliothekskatalog besteht aus einem handgeschriebenen Buch, in dem alle damals vorhandenen Titel verzeichnet sind. Die Bücher sind in zweiundzwanzig Wissensbereiche unterteilt. Von den Bibeln über die Schriften der Kirchenväter bis zu naturwissenschaftlichen oder medizinischen Werken stand den Ittinger Mönchen ein reicher Fundus an Wissen zur Verfügung. Mit der Übertragung der zweiundzwanzig Ordnungskriterien des Katalogs auf den Boden des Ausstellungskellers wird die gesamte Bibliothek zitiert und ihre Abwesenheit zum Thema gemacht.
Joseph Kosuth (geb. 1945) gehört zu den herausragenden Vertretern der Konzeptkunst. Ausgangspunkt seines künstlerischen Schaffens ist die Frage, wie Bedeutung entsteht und welche Rolle sie in der Kunst spielt. Insbesondere untersuchen seine Arbeiten das Verhältnis von Kunst und Sprache. In den sechziger Jahren behandelte der Künstler dieses Thema modellhaft mit der Aneinanderreihung von Alltagsgegenständen, ihrer Fotografie und ihrer Beschreibungen. Objekt, Abbild und lexikalische Definition zum Beispiel eines Stuhls stehen nebeneinander und lassen die je unterschiedlichen Eigenschaften dieser Formulierungen nachvollziehen. Seit Mitte der siebziger Jahre arbeitet Joseph Kosuth vorzugsweise mit und direkt in kulturellen Kontexten, die Bedeutung schaffen. Er benutzt Texte aus Wissenschaft und Philosophie aber auch räumliche und institutionelle Situationen als Material für seine Werke.
Ziel seiner Auseinandersetzung mit Kontext und Bedeutung ist dabei nicht eine eindeutige Interpretation dieser Grundmaterialien. Für Joseph Kosuth ist es vielmehr wichtig, dass nicht der Künstler die Bedeutung schafft, sondern dass sie für den Besucher, die Besucherin in der Ausstellung entsteht. Er meint: ”Die Leute sollen hingehen, über den Text nachdenken, über die Installation, über die gesamte Ausstellung und ihren Ort. Ich möchte die Situation des späten 20.Jahrhunderts vermeiden, in der uns als passive Kulturkonsumenten von anderen, die wir in der Position von Autoritäten vermuten, Bedeutungen vorgesetzt werden. Ich möchte nicht, dass Leute sich zurücklehnen, um Gemälde oder jene andere Autorität des Fernsehens anschauen. Ich möchte vielmehr, dass sie einen spezifischen Bruch der normalen Erfahrung von Bedeutung finden, um aus den Elementen, die ich zur Verfügung stelle, eine Konstruktion zu machen. Der Kontext wird in demselben Masse durch meine eigene Geschichte und meine Arbeit bestimmt wie durch den Ort.”
Im Projekt ”Eine verstummte Bibliothek” verbindet Joseph Kosuth die Informationen aus dem ehemaligen Katalog der aufgelösten Klosterbibliothek mit der Raumsituation des Ausstellungskellers. Die Klassierungen der Bücher und damit untrennbar verbunden der Verweis auf verschwundene Sinnzusammenhänge und Bedeutungsmuster dienen dem Künstler als Material für eine Installation in einem Raum, der selber Träger vielfältiger kultureller Bedeutungen ist. Dieses Zusammenführen von Geschichte und zeitgenössischer Kunst öffnet ein Interpretationsfeld, das eine Auseinandersetzung mit Bedeutungswandel und –verlust ebenso einschliesst wie die Beschäftigung mit der Frage, wie unsere Vorstellung der Vergangenheit beschaffen ist und aus welchen Bedeutungselementen sie sich zusammensetzt.