Dieter Berke: slow motion
21. März 2004 – 1. August 2004
Polaroidfotografien aus den USA
Im Alltagsgebrauch wird von Fotografien erwartet, dass sie scharf sind. An Schärfe und Detailreichtum wird üblicherweise die Qualität von Fotografien bemessen. Je präziser und genauer die abgebildeten Gegenstände erfasst sind, desto nützlicher sind Fotografien als Abbildungsinstrument von Wirklichkeit.Dieter Berke hat über Jahre hinweg als Bildjournalist und Fachfotograf gearbeitet und kennt die Anforderungen der Bildindustrien an die Fotografie aus eigener Erfahrung. Es wird verlangt, dass sich im Sekundenbruchteil der Momentaufnahme des um die Kurve brausenden Rennfahrers die ganze Spannung und Bewegung eines Motorradrennens kristallisiert oder dass in der perfekt ausgeleuchteten Oberfläche eines Objektes seine Eigenschaften eine gültige Darstellung erfahren. In einem Bild, das nur die Zeitdauer eines Sekundenbruchteils erfasst, sollen ganze Geschichten erzählt, anhand von Oberflächen komplexe Fakten und Zusammenhänge verbildlicht werden. Im Lauf seiner Arbeit erkannte Dieter Berke, dass die traditionellen Darstellungskonventionen der Fotografie sein Bedürfnis nach mehr Tiefe, mehr Gehalt nicht erfüllen konnten. Das Ausschnitthafte und Oberflächliche der Fotografie genügte ihm nicht mehr.
Mitte der Neunzigerjahre verdichtete sich diese Erfahrung des Mangels in einer Schaffenskrise. Dieter Berke stand vor der Wahl, entweder mit dem Fotografieren aufzuhören oder aber für sich radikal neue und andere Ausdrucksformen zu entwickeln. Er begann mit der Lochkamera und langen Belichtungszeiten zu experimentieren. Gleichzeitig manipulierte er den einfallenden Lichtstrahl mit Kristallen oder Siliziumplättchen, baute sich „Lichtpinsel“, die es ihm erlaubten, in den Prozess der Bildaufzeichnung einzugreifen. Mit der Kombination von moderner Kameratechnik und selbst gebauten Instrumenten zur Ausserkraftsetzung der optischen Gesetzmässigkeiten schuf sich der Fotograf ein Instrumentarium, das ihm erlaubte, zu neuen Bildwelten vorzudringen.
Dieter Berkes Experimente sind nicht technikverliebte Spielereien mit dem Ziel, möglichst attraktive visuelle Muster zu erzeugen. Der Fotograf sucht vielmehr nach Ausdrucksmöglichkeiten, um eigene, innere Visionen Bild werden zu lassen. Ausgangspunkt der Bildfindung bleibt dabei immer ein Stück Realität, auf die der Fotoapparat gerichtet wird: Landschaften, Tiere, Interieurs, Menschen – letztlich traditionelle Motive der Fotografie. Die langen Belichtungszeiten und die Manipulation des Lichteinfalls erzeugen dann allerdings Bilder, die nicht mehr den Erwartungen an ein fotografisches Abbild entsprechen wollen. Durch die langen Belichtungszeiten schreiben sich gleichsam mehrere Bilder, ja ganze Bilderserien in die lichtempfindliche Schicht ein. Die Informationsmenge wächst mit der Belichtungszeit, und die Brechung des Lichts mit Kristallen oder die Manipulationen mit den „Lichtpinseln“ addieren zusätzliche Informationen. Diese „Überinformationen“ stören die Bildschärfe. Schärfe entsteht nicht durch Addition, sondern ist das Resultat von Reduktion – der Verkürzung der Verschlusszeit und der Verkleinerung der Blende. Solche Schärfe ist auf den Bildern von Dieter Berke, wenn überhaupt, nur noch partiell vorhanden. An die Stelle der Bildschärfe tritt Bildtiefe.
In einem Selbstporträt, aufgenommen in einem Motelzimmer in Kalifornien, werden die verschiedenen Tiefenschichten der Bilder von Dieter Berke sichtbar. Auf den ersten Blick wird ein einfaches Interieur gezeigt: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bild, ein Fernsehapparat. Der Fotograf, der am Tisch sitzt, erscheint jedoch nur als Schatten. Er ist später gekommen oder früher gegangen. Seine Präsenz vermag jene der Wand hinter ihm nicht zu verdrängen. Wand und Person besetzen den gleichen Bildplatz. Die Fotografie dokumentiert so nicht nur die Anwesenheit einer Person im Zimmer, sondern sie verweist auch auf ein Kommen und Gehen, auf einen Prozess. Diese Konstellation wird zudem kompliziert durch das Bild auf dem Fernsehschirm. Bei langer Belichtungszeit wäre zu erwarten, dass die Bildröhre gleissend hell erscheint, was nicht der Fall ist. Der Fernseher zeigt nur ein Bild. Oder höchstens noch den Schatten eines zweiten. So schliesst das Selbstporträt gleichsam verschiedene Zeiträume ein: den Raum mit seiner dauernden Präsenz, dann den Fotografen, der kommt und geht, und den Film im Fernsehen, von dem nur ein Momentbild zu sehen ist.
Der Fotograf hat also offensichtlich manipuliert. Nicht das Bild, denn es handelt sich um eine Polaroidfotografie, deren Entwicklungsprozess nach dem Abschluss der Belichtung nicht mehr beeinflusst werden kann, sondern die Aufnahme. Die Fotografie wird so zu einer Art Zeitkapsel, in der ein Prozess seine bildliche Aufzeichnung erfährt. Unschärfe entsteht dadurch, dass der Prozess des Bildbetrachtens nicht wie bei einer Tonaufnahme die lineare, zeitäquivalente Rekonstruktion der Aufzeichnung ist.
Was beim Selbstporträt noch als unterscheidbare „Zeiträume“ analysierbar bleibt, verdichtet sich bei den meisten Landschafts- oder Tieraufnahmen zu einer untrennbaren Überlagerung von Bildtiefen. Weder Orte noch gezeigte Gegenstände erfahren eine Klärung. Überlagerung und Dichte der Informationen führen zu einem Schimmern oder Dämmern, in dem sich Erkennbarkeit und Benennbarkeit auflösen. Das Abbild der Welt verdichtet sich zu schemenhaftem Schein, mehr Traumbilder denn Abbilder.
Es bleibt unklar, welche Präsenz diese Fotografien noch zu beglaubigen vermögen. Wenn nun Roland Barthes behauptet: „Jegliche Fotografie ist eine Beglaubigung von Präsenz“ („Die helle Kammer“, Frankfurt am Main 1985, S. 97), so weist dies darauf hin, wie weit Dieter Berke den Begriff der Fotografie ausreizt. Die einzig sichere Präsenz bleibt bei ihm jene der Kamera, mit der er gleichsam Lichtzeichnungen oder Lichtmalereien generiert. Seine Fotografien sind nicht Abbild, sondern die Formulierung eines fragilen Aufscheinens – von Licht und von Zeit. Sie handeln so davon, wie trügerisch die Sicherheit der Bilder ist, aber auch davon, dass es auch für Bildermacher wie Dieter Berke keinen Ausweg gibt, der Scheinhaftigkeit der Bilder zu entkommen.
Markus Landert
Die Publikation zur Ausstellung ist im Shop erhältlich.