Zum Bericht eines Augenzeugen aus dem Jahr 1870
Im Jahr 1870, 22 Jahre nach der Aufhebung der Kartause Ittingen, erinnerte sich der Augenzeuge Johann Kaspar Mörikofer an die letzten Tage der Mönche in Ittingen. Der reformierte Pfarrer und Dekan hatte sich im Hinblick auf die Aufhebung der Thurgauer Klöster für den Erhalt der Klosterbibliotheken in öffentlichem Besitz eingesetzt. Im Sommer 1848 hielt er sich drei Wochen lang in der Kartause Ittingen auf und inventarisierte die Ittinger Bibliothek. Somit konnte er das Leben in der Kartause vertieft kennenlernen. Beeindruckt war er von den alteingespielten Ritualen der Mönche, die sie ungeachtet des ihnen durchaus bewussten Schicksals weiter aufrechterhielten.
Diesem Ausdruck der Achtung entgegengesetzt ist Mörikofers grundlegend kritische Haltung den Klöstern gegenüber: Er erachtet das klösterliche Leben als obsoletes Relikt des Mittelalters und gesteht ihm kein Existenzrecht in seiner Zeit zu. Bis auf zwei Ausnahmen hielt er die Mönche für «eng» und «beschränkt» und das Kloster für «verlottert», «herabgekommen» und verharrt in «geistlosem Stillstand». Auch für die klösterliche Wirtschaftsführung hatte er ein vernichtendes Urteil und charakterisierte sie mit «unvernünftigem Schlendrian». Der Zeitzeuge steht bei seiner Sicht auf das Klosterwesen noch ganz im Bann der Publizistik in den 1830er- und 40er-Jahren. Nicht zuletzt hinsichtlich der Wirtschaft treffen die Vorwürfe der Misswirtschaft in keiner Weise zu. Bis 1836 betrieb die Kartause ihre Wirtschaft und insbesondere den Weingrosshandel hochprofitabel, doch ab diesem Zeitpunkt ist unter staatlicher Verwaltung ein stetiger Rückgang festzustellen. Was Mörikofer demnach 1848 beobachtete, ist die Folge eines zwölfjährigen Wirkens staatlicher Verwalter, auf das die entmündigte Mönchsgemeinschaft keinen Einfluss mehr hatte. Er äusserte sich zwar negativ über das Wirken des damaligen staatlichen Verwalters, der später des Betrugs in bedeutendem Ausmass überführt und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Doch war ihm anscheinend nicht bewusst, dass im Rückblick der Umgang der staatlichen Administration mit Klostergut besonders im Fall der Kartause Ittingen von katastrophalem Versagen geprägt war – bis hin zum überstürzten Verkauf aller Klostergüter durch den Kanton von 1856.
Die Aufhebung der Kartause Ittingen steht im Kontext einer langen Geschichte obrigkeitlichen Zugriffs auf die speziellen geistlichen Institutionen der Klöster. In der Reformation wurden in reformierten Einflusskreisen die Klöster aufgehoben und ihr Vermögen verstaatlicht. In Österreich wurden ab 1782 alle Klöster ohne Nutzen für die Gesellschaft aufgehoben. Die Französische Revolution schliesslich führte zur Auflösung aller Klöster in Frankreich. Durch das allmähliche Vordringen des Freisinns in der Schweiz wuchs ab 1830 auch der Druck auf die schweizerischen Klöster. Nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um die Klöster führte in der Schweiz 1847 zum letzten Bürgerkrieg, der 1848 die neue Bundesverfassung zur Folge hatte. In dieser Situation schritt auch der Kanton Thurgau zur definitiven Auflösung seiner Klöster.
Dr. Felix Ackermann, Kurator Ittinger Museum