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Javier Téllez: Das Narrenschiff

4. September 2022 – 17. Dezember 2023

Als Kind zweier Psychiater wuchs Javier Téllez (*1969 Valencia, Venezuela) zwischen Behandlungszimmern und Bücherstapeln auf. Heute lebt er als Künstler in New York und entwickelt gemeinsam mit Menschen mit Psychiatrieerfahrung Filme, die unter anderem auf der Biennale Venedig und der documenta in Kassel liefen. Sie befragen gesellschaftliche Vorstellungen von Psychiatrie und psychischen Veränderungen auf aussergewöhnliche, poetische Weise.
Vom Kunstmuseum Thurgau eingeladen, vor Ort einen Film zu realisieren, verknüpfte Javier Téllez lokale Begebenheiten mit Weltgeschichte zu einem Netz, das er gleichsam auf dem Bodensee auswarf: Knotenpunkt ist der Besuch des heute berühmten Philosophen Michel Foucault 1954 in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, wo er Ludwig Binswanger wegen des Vorworts für dessen Aufsatz "Traum und Existenz" traf. Foucault war beeindruckt vom dortigen Fasnachtstreiben, was ein Anstoss zur Auseinandersetzung mit Masken und dem Motiv des "Narrenschiffs" war, das Foucault im Buch "Wahnsinn und Gesellschaft" (1961) ausführlich behandelt. Diese Schrift ist ein Meilenstein der Psychiatriegeschichte, weil sie verdeutlicht, wie sich der Blick der Gesellschaft auf Menschen mit psychischen Auffälligkeiten geformt und seit dem Mittelalter verfestigt hat. Eine wichtige Rolle in Foucaults Ausführungen spielt dabei die Moralsatire "Das Narrenschiff" des Baslers Sebastian Brant. 1494 erstmals gedruckt, wurde sie in ganz Europa gelesen und inspirierte vermutlich Hieronymus Bosch zum gleichnamigen Gemälde.
Aus diesen vielfältigen Quellen schöpfend gestaltete Javier Tellez zusammen mit einer vielköpfigen Filmcrew eine heutige Vision des Motivs des Narrenschiffs. Gemeinsam mit Menschen mit Psychiatrieerfahrung wurden Texte über Wahnsinn und Gesellschaft formuliert. Ihre berührenden Betrachtungen über Sein, Schein und den Zustand der Welt vertonte die Gruppe unter Anleitung des Musikers Johannes Ötzbrugger, der Worte und Gesang mit der Laute begleitete – und die Darsteller auf ihrer magischen Reise über den Bodensee.
Auch die Ausstattung wurde in einem gemeinsamen Prozess erarbeitet. Zusammen mit der Kunsttherapeutin Lenka Roth und der renommierten Schwyzer Maskenbauerin Verena Steiger entstanden im Offenen Atelier Kreuzlingen Masken in traditioneller Wachstechnik, angeregt von Fotos der Münsterlinger Fasnacht. Aus einem Theaterfundus wurden historische Kostüme beschafft, und der Nachbau einer mittelalterlichen Lädine diente als Hauptbühne für die Filmaufnahme.
Geschichte und Malerei, Musik und Masken wurden zu den Startkoordinaten für eine traumgleiche Fahrt ins Ungewisse. Vieles bleibt beim poetisch erzählenden Film offen: Nimmt das Schiff Kurs auf "Narragonien" oder entflieht es der Welt, in der Normalität und Wahnsinn zunehmend verschwimmen? Das Boot auf dem Wasser ist nicht nur Sinnbild für den Zustand der heutigen Welt, sondern zugleich Klang- und Resonanzkörper für die vielen Ichs, mit denen der moderne Mensch unterwegs ist und die ihn über Wasser halten.

"Das Narrenschiff" – ein Film von Javier Téllez in Zusammenarbeit mit:
Vanessa Bach, Agathe Bellwald, Werner Brandenberger,  Cocó Cespedes,  Irene Fischbacher,  Niklaus Garbini, Brigitta Grüter, Ilona Horn, Nadine Iseli, Astrid Rast Mota Campos, Birgit Semle, Maja Vogel, Gregor Wick.
Musik interpretiert von Johannes Ötzbrugger und Nadine Iseli.

Javier Téllez, "Das Narrenschiff", 2022. Digitalfilm. Ca. 19 Minuten.

Auftrag und Koproduktion: Kunstmuseum Thurgau. Videostills. Courtesy of the artist.

Hier gehts zum Pressematerial.

Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung:

Dienstag, 20. Juni 2023, 19 Uhr

"Das Narrenschiff" legt ab.
Ein Symbol im Wandel der Zeiten. Mit Museumsdirektor Markus Landert, Kulturvermittlerin Sabine Münzenmaier und Kuratorin Stefanie Hoch.

 

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