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Konstellation 10 - Nackte Tatsachen

7. September 2019 – 13. April 2020

Martha Haffter, "Akt im Badezimmer", ohne Jahr, Öl auf Leinwand, 67 x 56.5 cm, Kunstmuseum Thurgau.

Der Mensch ist ein Mängelwesen, der die ungenügende Ausstattung seines Körpers mit immer neuen Erfindungen kompensiert. So widersteht der nackte Körper nur dank Kleidern dem peitschenden Regen, der beissenden Kälte oder der glühenden Sonne. Das Schützen und Verhüllen des Körpers ist eine der wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften der menschlichen Kultur. Kleider waren bald mehr als nur eine funktionale Hülle. Sie wurden Zeichen und Bedeutungsträger und sind bis heute Uniform, Ornat, Mönchskutte, Handwerkerkluft oder Partyfähnchen. Kleider machen Leute. In der Bekleidung wird gesellschaftlicher Status sichtbar gemacht, demonstriert sich das Selbstverständnis jedes Einzelnen.
Nicht nur die Kleidung ist als gesellschaftliches Ausdrucksmittel wichtig. Auch wenn Menschen ihre Kleider ablegen und sich nackt zeigen, ist dies ein bedeutungsvoller Akt. Der nackte Körper funktioniert genauso als Zeichen wie der bekleidete. Während die Kleidung aber gesellschaftliche Bedeutung zum Ausdruck bringt, steht der nackte Körper für andere Werte. Ist der Mensch nackt, so offenbart er seine ehrliche, unverhüllte Persönlichkeit. Der nackte Mensch ist ganz Natur, ist verletzlich, empfindsam, ist ganz er selbst. Im schönen Körper realisiert sich zudem eine ideale Vorstellung von göttlicher Harmonie. Hässliche Nackte werden dagegen als Trolle und Hexen, als Krüppel und Ungeheuer mit dem Negativen der menschlichen Natur in Verbindung gebracht.
Solche Bedeutungsaufladung des Körpers – ob nackt oder bekleidet – manifestiert sich nicht zuletzt in der Kunst. In der Sammlung des Kunstmuseums Thurgau gibt es so Hunderte von Aktdarstellungen, in denen sich der Wandel des Blicks auf den menschlichen Körper fassen lässt. Früh tritt der nackte Körper in der Kunst da auf, wo Geschichten erzählt werden sollen. Adam und Eva streifen in unschuldiger Nacktheit durch ihr Paradies. Die Frau von Potiphar versucht Joseph mit ihrem nackten Körper zu verführen, und nur ein Fetzen verdeckt die Blössen des leidenden Jesus am Kreuz. Die Bibel, die griechische Mythologie oder die Märchenerzählungen sind voller Szenen, in denen die Körper entblösst werden, sei es, um die existenzielle Verletzlichkeit des Menschen zu demonstrieren, sei es, um den Körper als Instrument der Verführung darzustellen.
Für Künstlerinnen und Künstler war und ist es eine wahre Herkulesaufgabe, die Körper mit all ihren Ausdrucksfacetten zu fassen, vor allem auch, weil Körper sich oft in Bewegung befinden. In den Akademien gehörte das Zeichnen nach Modell, aber auch das Studium von Anatomie und Körperbau zu den wesentlichen Übungen. Von August Herzog oder Martha Haffter haben sich Hunderte von Zeichnungen erhalten, in denen die nackten Körper in unterschiedlichsten Positionen dargestellt werden. Gleichsam mit kaltem Blick werden die posierenden Männer und Frauen analysiert, vermessen und mit schnellem Strich auf dem Blatt festgehalten. Martha Haffter hat ganze Skizzenbücher mit den sogenannten Minutenakten gefüllt, bei denen die Modelle ihre Stellung nach kurzer Zeit wechselten, wodurch das schnelle Erfassen von Posen erzwungen wurde. Solche Zeichnungen bildeten die Grundlage, um über bestimmte Körperhaltungen Stimmungen und Gefühle auszudrücken. Carl Roeschs matronenhafte Frau, die sich mit der einen Hand an die Brust greift, wird so für seine Zeitgenossen zum Sinnbild für Fruchtbarkeit und Selbstlosigkeit. Hans Brühlmanns "Nackte mit geneigtem Kopf" strahlt dagegen unübersehbar Melancholie und Traurigkeit aus. Verbunden mit dem Zeichnen nach Modellen war die Suche nach dem "idealschönen Körper", dessen göttliche Harmonie und Perfektion in idealen Proportionen ihren Ausdruck fanden.
Jedem Bild eines Menschen, ob nackt oder bekleidet, ist immer ein Machtverhältnis eingeschrieben. Da steht auf der einen Seite die Künstlerin, der Künstler. Sie schauen ganz genau hin und überführen das Gesehene in ein Bild, das wiederum der Schaulust des Publikums dient. Auf der anderen Seite posiert das Modell, nackt, ausgestellt, von allen Seiten begafft, nur da, um angeschaut, um im Bild zu werden, was die anderen sehen wollen. Modell stehen ist ein Beruf, für den bezahlt wird. Ein Modell verkauft seine Ansicht, auch wenn es dafür gar nichts tun muss – nur stillstehen, was dann aber doch nicht nichts ist, weil die geforderte Haltung lange zu halten ist, weil selbst lockeres Stehen mit der Zeit anstrengend wird. Jede stillgestellte Geste verliert ihre Lockerheit und gefriert im Dienste der Kunst zur Pose, die ganz von den Künstlerinnen, den Künstlern und dem Publikum bestimmt wird.
Im "Selbstbildnis mit Modell und drei Malerkollegen" von Theo Glinz manifestiert sich die Komplexität des Verhältnisses von Modell und Künstler deutlich. Im Entstehungsjahr des Bilds, 1913, schauten im Normalfall noch Männer auf eine Frau. Bei Glinz schaut das entblösste Modell aber dann doch sehr selbstbewusst zum Betrachter zurück, während die vier Künstler mit ihrem eigenen geckenhaften Auftritt beschäftigt scheinen. Selbst wenn die Rollen in diesem Bild noch klar verteilt zu sein scheint – der Mann malt, die Frau ist Modell und Bildobjekt –, deuten sich in der selbstbewussten Haltung des Modells doch schon die Erschütterungen an, die in jenen Jahren nicht nur die Geschlechtervorstellungen, sondern die gesamte Kunst, Psychologie und die damals noch immer als ewig gültig verstandenen Wertmassstäbe der europäischen Gesellschaften erfassten.
Mit dem massenhaften Aufkommen der Fotografie verändert sich auch der Blick auf den nackten Körper. Mit der Anwesenheit einer Kamera bricht immer eine potenzielle Öffentlichkeit in einen Raum ein. Was allenfalls eine intime Situation war, ist es nicht länger. Ein Fotoapparat kann in Sekundenbruchteilen eine unverfängliche Szene in ein Skandalbild verwandeln, weil bis heute der Fotografie Zeugnischarakter zugebilligt wird. Das Bild des nackten Körpers ist da, wo er unverhüllt auf den sexuellen Akt verweist, bis heute mit einem Tabu belegt. Solche Bilder dürfen nicht öffentlich sein, selbst in einer Gesellschaft, in der Pornografie überall nur ein Mausklick entfernt liegt, selbst da, wo in der Produktewerbung auf Schritt und Tritt auf Sex und Erotik verwiesen wird. In der Ausstellung "Nackte Tatsachen" markieren Fotografien von vier Männern – Eugene van Bruenchenhein, Miroslav Tichy, Peter Koehl und Barnabas Bosshart – die Breite des Felds, das die Fotografie vom voyeuristischem Starren bis zum einfühlsamen Schauen aufspannt.
Nicht jeder Blick auf einen nackten Körper ist zwangsläufig voyeuristisch. Manche Bilder scheinen von ungleichen Machtverhältnissen frei zu sein: Es sind intime Bilder, die Privates ausstrahlen. Hier kann der nackte Körper Akteur im erotischen Spiel sein. Der nackte Körper wird Projektionsfeld von lustvollen Empfindungen, von Gefühlen und starken Emotionen. Nacktheit ist Teil eines lustvollen Spiels von Verführung und Zärtlichkeit. Wir werden Zeugen von Lust und Begehren, werden Teil eines emotionalen Raums, was manche geniessen, andere verdammen werden. Für solche Bilder ist der Museumsraum eigentlich schon viel zu öffentlich.
In einer Gesellschaft, in der der private und der öffentliche Raum längst bruchlos ineinander übergehen, gibt es aber eigentlich keine intimen Bilder mehr. In der zeitgenössischen Kunst ist Intimität nicht mehr mit Zärtlichkeit verbunden, sondern nur noch mit Nähe, die durchaus auch unangenehm sein kann. Simone Kappeler oder Roland Iselin treten mit ihrer Kamera unbarmherzig nahe an den nackten Körper heran und wir mit ihr. Jedes Haar, jede Pore ist sichtbar und weil das Gegenüber "nur" ein Bild ist, haben wir keine Hemmungen, genau hinzusehen. Oder doch? Solche Fotografien zeigen den nackten Körper in unbarmherziger Schärfe und wir fragen uns, ob wir das überhaupt so genau sehen möchten.

Hier ein schöner Beitrag auf art-tv.ch.

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