Seit Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich ein Phänomen beobachten, das mit dem Begriff «Aussenseiterkunst» gefasst wird. Damals arbeitete die Avantgarde an einer revolutionären Neubestimmung dessen, was als Kunst galt. Auf der Suche nach innovativen Ausdrucksformen beschäftigten sich Künstlerinnen und Künstler mit Dingen am Rand oder sogar ausserhalb der Kunst. Objekte aus Afrika und Ostasien gerieten dabei ebenso in ihren Fokus wie Werke von Autodidakten oder psychisch Kranken. Angeregt von solchen Erzeugnissen entstanden ganze Bewegungen. «Naive Kunst», die «Bildnerei der Geisteskranken» oder «Art brut» sind nur einige der Begriffe, mit denen solche Strömungen am Rand der Kunst beschrieben und auch für ein breiteres Publikum zugänglich gemacht wurden. Alle diese Bezeichnungen lassen sich mit dem relativ neutralen Begriff «Aussenseiterkunst» zusammenfassen.
Den Anstoss zu "Jenseits aller Regeln – Das Phänomen Aussenseiterkunst" gab eine bedeutende Schenkung ans Kunstmuseum Thurgau. Der Sammler Rolf Röthlisberger übergab dem Museum 2018 über 1'200 Bilder, Zeichnungen und Objekte. Er hatte über Jahre Werke der Art brut zusammengetragen und sich auch als ehrenamtlicher Direktor des Schweizerischen Psychiatrie-Museums in Bern intensiv mit dem Thema beschäftigt. Bei seiner Sammeltätigkeit verliess sich Röthlisberger auf seine Intuition sowie den intensiven Austausch mit anderen Interessierten. Entstanden ist so eine vielfältige Kollektion, in der ein breites Spektrum an Werken von Menschen aus psychiatrischen Kliniken, aber ebenso Arbeiten von Autodidakten und von Personen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen vertreten ist.
Diese Vielfalt eignet sich hervorragend, um den Begriff «Aussenseiterkunst» und die damit verbundenen Vorstellungen zur Diskussion zu stellen. Zum einen enthält die Sammlung Werke von weltbekannten Aussenseiterinnen und Aussenseitern wie Adolf Wölfli, Aloïse Corbaz, Carlo Zinelli oder Martin Ramirez. Neben diesen Klassikern finden sich bedeutende Werkgruppen aus der psychiatrischen Klinik von Maria Gugging bei Wien oder dem Atelier La Tinaia in Florenz. Diese Orte waren für die in den 1970er-Jahren einsetzende Neubewertung der künstlerischen Arbeit von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen von herausragender Bedeutung. Ebenso sind Beispiele vertreten von Menschen, die in sogenannten offenen Ateliers arbeiten, oder auch Bilder von Autodidakten wie Hans Krüsi, Ulrich Bleiker und Ignacio Carles-Tolrà. Die Schenkung macht so sichtbar, dass Aussenseiterkunst weit mehr umfasst als das kreative Tun von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Unter diesem Begriff müssen vielmehr vielfältigste Ausdrucksformen verstanden werden, die jenseits aller Regeln der Kunst und ausserhalb jeder Einschränkung der Kreativität durch gesellschaftliche Konventionen entstehen. So wird ein Ausstellungsbesuch zu einer Begegnung mit Bildern und Objekten, deren Irritationspotenzial starke Emotionen auszulösen vermag und vielfältige Impulse für eine Befragung der Bedingtheit des Menschseins liefern kann. Gerade weil es ausserhalb der Zentren des Betriebssystems Kunst wuchert, vermag das Phänomen Aussenseiterkunst noch immer die wichtigen Fragen zu stellen.
Zur Ausstellung erscheint im Verlag Scheidegger & Spiess die Publikation "Jenseits aller Regeln – Aussenseiterkunst, ein Phänomen": Format 23 x 30 cm, 280 Seiten, ca. 300 Farbabbildungen, gebunden SFr. 59.–, Verkaufspreis im Museum: SFr. 48.–. Erhältlich im Museumshop vor Ort oder online bestellbar.